Rassismus in neuem Gewand

Die Rede vom „ethnischen Konflikt“ kaschiert nur das Wirken alter Ideologien und Interessen

von ROSEMARIE NÜNNING

Um das Alter jugendlicher Flüchtlinge festzustellen, werden in Deutschland Bart-, Schamhaar, Knochen-, Zahnwachstum und Körpergröße analysiert. Präzise Aussagen seien so nicht zu erhalten, wird ein deutscher Anthropologe im April in der taz zitiert, da es zum Beispiel bei „afrikanischen Ethnien“ eine andere Körperentwicklung gebe. Er untersucht jugendliche Straftäter und reibt sich offenbar am groben Merkmalkatalog der Abschiebe- und Verurteilungsbürokratie. An der Möglichkeit der Altersbestimmung selbst scheint er keine Zweifel zu hegen: Die Kriterien müssten verbessert und ausgeweitet werden.

Sammeln wir die Stichworte: „Ethnie“, „Körperentwicklung“, „kriminell“, und es wird erkennbar, dass eine lange verpönte Ideologie wieder aufersteht, ohne dass sie beim Namen genannt würde – die von den Rassen.

Das Äquivalent für die früher vollzogenen Reinigungen am „gesunden Volkskörper“ sind die „ethnischen Säuberungen“. Diesen Ausdruck hinterließ uns die kroatische faschistische Bewegung Ustascha, welche ihre Politik der Ermordung und Vertreibung von Serben, Juden, Roma, Muslimen während des Zweiten Weltkriegs so bezeichnete. Anfang der Neunziger war es wieder Kroatien, das diesmal, nach der Unabhängigkeit von Jugoslawien, die serbische Guerilla der Durchführung „ethnischer Säuberung“ in kroatischen Gebieten bezichtigte.

Ohne Anführungszeichen leben wir seitdem mit vielen angeblich ethnischen Konflikten. Zum Beispiel in Serbien, Bosnien, Kosovo, zum Beispiel in Ruanda. In Bosnien wurden die dort lebenden Muslime über Nacht in eine Ethnie umgewidmet. Obwohl, wie der britische Balkankorrespondent Misha Glenny feststellte, die bosnischen Muslime weitgehend säkular seien und keine besonderen „ethnischen oder linguistischen Kriterien aufweisen, durch die sie sich von den Serben oder Kroaten unterscheiden könnten“.

Die Begriffe, hinter denen sich alte rassistische Ideologien verbergen, sind austauschbar. Was den einen die „Ethnie“, ist anderen, wie dem Harvardprofessor für „Regierungswissenschaft“, Samuel P. Huntington, die „Kultur“ oder „Zivilisation“. Er prophezeit den „Kampf der Zivilisationen“, in welchem der „Westen“ seine wirtschaftliche und militärische Macht benötigen werde, um sich vor den „nicht westlichen Kulturen“ schützen zu können. Huntington hatte Ende der Vierzigerjahre einen bemerkenswerten Vorläufer in Südafrika: W. W. M. Eiselen. „Nicht Rasse, sondern Kultur ist die Grundlage des Unterschieds, das Zeichen des Schicksals“, erklärte dieser. Die „traditionellen Kulturen“ zu erhalten sei notwendig für den sozialen Zusammenhalt. Eiselen forderte, als intellektueller Mitbegründer der Apartheid, die Segregation.

Gerade im vergangenen Jahrzehnt wurden von hofierten Figuren wie Huntington erneut alte irrationale Weltbilder fabriziert. Dabei ist den Klassifizierungseiferern, welche eine vielfach gegliederte Hierarchie von „minderwertigen“ und „wahren“ Menschen schufen, wissenschaftlich längst der Boden entzogen.

Beispiel Ruanda: Hier sollen wir glauben, dass zwischen von der Zivilisation nur gestreiften afrikanischen „Ethnien“, den Hutus und Tutsis, eine Urfeindschaft aufgelebt sei. Tatsächlich jedoch war in vorkolonialer Zeit ein „Hutu“ ein Bauer, ein „Tutsi“ war ein Viehzüchter. Obwohl auch eine Statuszuschreibung, galt die Unterscheidung vor allem der sozial-ökonomischen Rolle im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Deshalb war es möglich, die Seiten zu wechseln. So konnte ein Hutu, war er selbst zum Beispiel durch Heirat Viehzüchter geworden, in einem zeremoniellen Übergang ein Tutsi „werden“. Dasselbe Muster findet sich im institutionalisierten Transvestismus früher Gesellschaften. Ein neues Geschlecht konnte „erworben“ werden, indem in den Tätigkeitsbereich des anderen gewechselt wurde, weil dieser Arbeitsteilung noch kein Wertunterschied beigemessen wurde.

Während Frauen sehr früh ihre „welthistorische Niederlage“ erlitten, bedurfte es in Ruanda erst der deutschen und später der belgischen Kolonialverwaltung. Sie konstruierten zum Zwecke des Teilens und Herrschens „Ethnien“, bevorzugten und benachteiligten. Sie froren die Durchlässigkeit ein, indem sie Ausweise ausgaben, in denen festgeschrieben war: Tutsi oder Hutu. So bereiteten sie den Boden für Massaker und Vertreibungen, wie in der „sozialen Revolution“ von 1959, als die Tutsis mit belgischer Hilfe aus den politischen Funktionen vertrieben wurden. Das unabhängige Ruanda von 1962 war ein Hutustaat, dessen Regime sich selbst der künstlichen Kluft bediente. Als die Weltmarktpreise für Kaffee, Zinn, Tee Ende der Achtziger abstürzten, bewirkte das Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds die weitere Verelendung der Bevölkerung und den Auftakt zum Genozid von 1994. Aber selbst als Radiosender im April die Hutus zur Jagd auf Tutsis aufriefen, ließ das Regime in den ersten beiden Tagen des Tötens zuerst oppositionelle Hutus abschlachten, um die „Gemeinschaft der Mörder“ herstellen zu können.

Der alte Rassismus in neuem Gewand kann aus unvermuteten Quellen trinken: der Identitätspolitik der Postmodernen. Was in den Sechzigern als „black and proud“ oder „gay and proud“ begann, war inspiriert von den kämpferischen Bewegungen der Zeit und begriff sich als deren Teil. Also hieß es auch „Black Power“ und „Gay Liberation Front“ in Anlehnung an die vietnamesische Befreiungsbewegung. In den Achtzigern und Neunzigern kam dann der Rückzug in die „Communities“. Diskriminierung oder Ausbeutung galten nicht mehr als gemeinsamer Nenner. Das „Vive la différence!“ forderte die Anerkennung des Unterschieds und die Notwendigkeit der Separation – bis hin zur Gruppe der schwarzen, jüdischen, lesbischen Immigrantinnen. Ein amerikanischer Soziologe, Abner Cohen, hat ironisch vorgeschlagen, die Londoner Börsenmakler als „Ethnie“ auf Grund ihrer Gruppenidentität zu betrachten, und den Unsinn damit zu seinem logischen Ende geführt.

Bis zur extremen Rechten bedienen sich die Demagogen beim postmodernen „Diskurs“: Die „Kulturen“ können nicht zusammenleben – Ausländer raus! Oder: Die „Kulturen“ können nicht zusammenleben – Nato rein!

Chefberater Huntingtons Motiv war 1993 denn auch, Ersatz zu finden für die abhanden gekommenen „ideologischen Grenzlinien des Kalten Krieges als Brennpunkt für Krisen und Blutvergießen“. So konstruierte er eine Front zwischen den „Zivilisationen“, auf dass der US-amerikanische Imperialismus in künftigen Krisen, mit neuer Ideologie versehen, Blut vergießen kann.

Der einst „rote“ Daniel Cohn-Bendit, heute Politiker der Grünen, reproduzierte ein Jahr später in der taz Huntingtons negative Utopie: Zur Förderung einer neuen militärischen Rolle Deutschlands forderte er die Bombardierung der mehrheitlich von Serben bewohnten bosnischen Stadt Pale, um dem „durchgeknallten Haufen“, der serbischen Bevölkerung, ihre „Verblendung“ auszutreiben. Dazu musste er allerdings selbst fest die Augen verschließen vor einer großen serbischen Antikriegsbewegung aus StudentInnen und ArbeiterInnen und vor zehntausenden von Deserteuren, die auch in Deutschland Schutz suchten.

Oder der britische Lord David Owen, früherer EU-Vermittler im Bosnienkonflikt, der angesichts des aufbrechenden Konflikts in Makedonien die politische Landkarte auf dem Balkan „nach dem Vorbild des Berliner Kongresses von 1878“ neu ziehen wollte. Auf jenem Kongress war die Region unter sieben Nationen ohne die Balkanländer verschachert worden: „Durch künstliche ethnografische Grenzen in Teile zerschnitten, unter die Kontrolle importierter Dynastien aus deutscher Pflanzschule gestellt, an Händen und Füßen durch die Intrigen der Großstaaten gebunden“, beschrieb Leo Trotzki das Schicksal des Balkans, das ihm heute wieder droht.

Die „Ethnifizierung“ oder „Kulturifizierung“ gesellschaftlicher Spannungen erweist sich so als Ablenkung von Interessen, Verantwortlichkeiten – und von Klassenkonflikten. Auch dem Auseinanderbrechen der jugoslawischen Gesellschaft lag keine Feindschaft der „Ethnien“ zu Grunde. Am Anfang stand vielmehr die schwere Wirtschaftskrise der Achtzigerjahre und ein Strukturanpassungsprogramm des Internationalen Währungsfonds sowie die Verelendung der Bevölkerung. Über „ethnische Grenzen“ hinweg wehrten sich von Jahr zu Jahr mehr Menschen dagegen, bis 1987 war jede/r zehnte Arbeiter/in an Streiks beteiligt.

Als im Mai des Jahres elftausend kroatische Bergarbeiter fünf Wochen lang die Arbeit verweigerten, traten Arbeiter der bosnischen, serbischen, ungarischen, albanischen Mehr- und Minderheiten in Solidaritätsstreiks – die taz berichtete. Erst hier tritt Slobodan Milošević, der bis dahin nicht die Reputation eines üblen Nationalisten hatte, als solcher in Erscheinung und beginnt mit einem klassischen Ablenkungsmanöver – so wie in Deutschland von Zeit zu Zeit die „Asylantenflut“ beschworen wird. Er gründet ein serbisches Komitee im Kosovo und findet ausreichend Helfer in den Massenmedien für eine Lügenkampagne über die Albaner. Aber selbst als er ein Jahr später zwei Millionen Menschen in einer nationalistischen Demonstration zusammenbrachte, trugen immer noch große Gruppen Transparente mit Lohnforderungen und Parolen gegen ihre Verarmung.

Es ist nicht bekannt, dass sich die zivilisierten westlichen Politker zu irgendeiner Zeit auf die Seite der multi-„ethnischen“ Bewegung von unten gestellt hätten. Vielmehr halfen sie beim Auseinanderreißen des Landes, indem Deutschland sich eilte, die Unabhängigkeit Kroatiens anzuerkennen. Halfen beim Vertreiben, indem sie dem kroatischen Ultranationalisten Franjo Tudjman, der dem neuen Regime die alten Symbole der Ustascha anheftete, freie Hand gaben, die Krajina von der gesamten serbischen Bevölkerung „ethnisch zu säubern“. Halfen beim Morden, indem sie Waffen lieferten und Bomben abwarfen. Dies alles zum Zwecke des Schutzes der „Ethnien“ und um dem Treiben des „neuen Hitlers“ Milošević ein Ende zu setzen.

Sein Ende kam, aber anders: als im vergangenen Herbst die Betriebe bestreikt und besetzt wurden, als Arbeiter mit dem Bagger die Polizeisperren durchbrachen. Es kam mit dem „Sturm auf die serbische Variante des ,Winterpalais‘ “, schrieb die Belgrader Dramatikerin Biljana Srbljanović in der Süddeutschen Zeitung verblüfft und begeistert, mit der „Baggerrevolution, die im Grunde ein Teil der europäischen Tradition ist“.

Wie der Mythos vom „durchgeknallten serbischen Haufen“ durch eine Klassenaktion in wenigen Tagen hinweggefegt wurde, wird es dringend Zeit, dass der Mythos von den „Ethnien“, „Zivilisationen“, „Kulturen“ ebenso hinweggefegt, dass den Ideologen, die noch das Wort von den Rassen vermeiden, das Handwerk gelegt wird.

ROSEMARIE NÜNNING, 49, arbeitet als Korrektorin in der taz