Schön die Flagge fönen

■ Konzept ohne Halt: „Alpenröcheln“ zum Abschluss des Nachwuchs-Festivals „Die Wüste lebt“ im Amerikahaus

Leise ringen die Lungenkranken nach Luft. Der Lebensluft, die ihnen längst viel zu schwer geworden ist. Sofort denkt man an ein Sanatorium in Davos, an Thomas Manns Zauberberg, an jenen besonderen Hügel, der die Menschen, die hierher kommen, in einer Ausnahmesituation zusammenführt und sie wandelt. Viele von Ihnen verlassen diesen Ort nicht mehr.

Seltsam gefangen muten auch die Schauspieler in Alpenröcheln an, nur sind sie es eher in einem Regiekonzept, das keinen ästhetischen Halt verspricht, sondern sich in allzu bemühter Parodie verliert. Gut gemeint hatten die beiden jungen Regisseurinnen Karin Heberlein und Regina Gyr ihre Persiflage, die sie zum Abschluss des Nachwuchsfestivals Die Wüste lebt im Amerikahaus vorstellten. Und ja, bei Thomas Mann ist es schon amüsant zu lesen, welche Irrungen und Wirrungen die Heilsuchenden im Sanatorium oberhalb von Davos umtreiben. Die allzumenschlichen Sehnsüchte, die sich wider den tuberkulösen Hustenkrampf und über alle Spucknäpfe hinweg ihre entfesselte Bahn brechen. Die Begierden, die die Kranken von einem Patientenzimmer ins andere treiben und das Herzflattern, das sich während der Liegekur einstellt. Die von Ritualen durchzogene alpine Schwüle, in der die sinnliche Verführung an jeder Ecke lauert.

Der Zauberberg von Thomas Mann ist aber unendlich viel mehr als das bisschen Amüsement, Metapher einer von Kriegslust aufgeheizten Atmosphäre in Europa. Ort eines Kampfes zwischen Aufklärungsgedanken und blindem Glauben.

Bei Alpenröcheln sieht man leider lediglich eine neurotische Patientenschar, die sich in belanglosen Gesprächen und kindischen Liebeleien verfängt, bar jeder Hintergründigkeit und ohne einen wirklichen Gedanken. Das ermüdet. Hektisch jagen die Darsteller auf der von Bettina Minder und Eduardo de Oliveira Rosa mit einigen klinischen Vorhängen verhängten Bühne hin und her. Im Hintergrund: das unvermeidliche Alpenpanorama. Eine Spielzeugeisenbahn dreht ihre Runden und sorgt für Patientennachschub. Eine Patientin im Rollstuhl begrüßt die Anwesenden und verkündet: „Für mich gibt es diese Geschichte.“

Der Rest ist erstarrtes Ritual: morgendliche Liegekur, Spaziergang, Liegekur, Mittagessen, Liegekur, Spaziergang, Abendessen, Liegekur. „Schon wieder ein Tag zum Sterben,“ klagt die burschikose Alexandra Vasalli, gespielt von Anja Margoni. Sie hat ein Auge auf den feschen Dichter Herrn Neumann (Joerg Eckarth) geworfen, der bei der morgendlichen Liegekur seine neueste Wickeltechnik zum Besten gibt. Frau Ditritsch, ein wenig überspannt gespielt von Silvia Berchtold, verehrt mehr oder weniger deutlich den schüchternen Herrn Schmits. Eine Krankenschwester fönt die Schweizer Flagge. „Das Wetter steht impertinent und penetrant vor Augen“, ahmt Herr Schmits (Martin van Emmichoven) den Sprachstil Thomas Manns nach. Ja und? Sie reden über nervende Klarinettistinnen und allzu ausgefallenes Essen, gehen spazieren oder schauen täglich beim Arzt vorbei.

„Nur im Tal ändert sich was, hier oben ändert sich nichts“, sagt Herr Neumann. Leider doch. Auf der Bühne kommt alles noch schlimmer, die Gespräche werden unerträglicher („Alles fit im Schritt“), die Begegnungen langatmiger. All das nur, um die Rituale der Bergwelt zu entlarven, oder die offensichtlich verhasste Bürgerlichkeit jenes berühmten Lübecker Dichters? Langsam aber sicher geht es bergab mit dieser Inszenierung. Kulminationspunkt ist eine karnevalistische Kostümparty, deren Humorniveau noch nicht einmal das eines Stefan Raab erreicht.

Annette Stiekele