Signaturen des Tanzes

■ Als Fremder auf kultureller Landpartie in der Erdbeerkuchen-Kolonie: Die Galerie ART 99 in der Alten Molkerei Worpswede präsentiert Aquarelle von Erhard Kalina

Ich fahre nach Worpswede – nicht nur wegen der (gar nicht so) „alten Worpsweder Meister“ und ihrer Landschaft, sondern auch um zu sehen, was für Kunst heutzutage im Moor gemacht wird. Aber weil ich nicht von hier bin und weil alle immer Angst haben, dass ich alles missverstehe, geben mir meine Bremer Bekannten Warnungen mit auf den Weg. Worpswede sei nett, aber bestimmt nicht aufregend; Kunst und Kaffeefahrt seien hier eine dauerhafte Synthese eingegangen; kurz: das ehemalige Kunstmekka sei längst eine beschauliche Erdbeerkuchen-Galerie geworden.

Vor Ort jedoch stellt sich heraus, dass man an das Erscheinen leibhaftiger Künstler durchaus gewöhnt, oder wenigstens freudig darauf vorbereitet ist. Die nette Frau am Schalter des Museums am Modersohn-Haus spricht mich spontan an: „Sie sind doch bestimmt auch Künstler.“ Und als ich verneinen muss, meint sie: „Sie sehen aber so aus!“

Jedenfalls gibt es in Worpswede neben vielen Kaffeefahrern - und, übrigens, einigen netten und preiswerten Cafés - immer noch eine lebendige Kunstszene. Ein privilegierter Ort, um ihr zu begegnen ist die Alte Molkerei, ein wenig abseits vom Busbetrieb an der Osterweder Straße gelegen. Der großräumige Komplex wurde in den Achtzigerjahren in ein „Kunstcentrum“ (Sic! - Kunst nährt sich von den kleinen Abweichungen) umgewidmet. Heute sind dort Galerien, Töpferateliers, eine Bronzeguss-Werkstatt, eine Kunstschule, ein Buchantiquariat - und ein Weinkeller untergebracht.

Mein engeres Ziel ist die Galerie ART 99, eine Produzentengalerie, die nicht weniger als zehn bis zwölf Ausstellungen im Jahr veranstaltet. Anfang des Monats wurde dort die Ausstellung „Menschenbilder“ eröffnet. Sie zeigt Werke von Erhard Kalina, der in Ritterhude und Worpswede arbeitet. Kalinas Aquarelle – die Worpsweder Ausstellung beschränkt sich weitgehend auf dieses Medium – sind verewigende Abbildungen von Moment und Bewegung. In einem Zug und mit durchaus modernistischem Gestus gemalt, suchen sie doch beinahe romantizistisch nach dem Essentiellen. Titel wie „Körpersprache“, „Körper-Musik“, „Mensch/Natur“ oder „Geschlecht“ machen Kalinas Streben deutlich, Wesentliches freizulegen. Er wolle ein Stück seiner Seele sichtbar machen und den ästhetischen Prinzipien der Erinnerung nachspüren, sagt der Künstler. Der Blick durch die Oberfläche ist in der Komposition der Bilder unmittelbar nachvollziehbar: Fast alle gezeigten Werke verbinden oder kontrastieren die Prinzipien von Gemälde und Zeichnung, abstrakter Fläche und menschlicher Figur. Die Dynamik der Arbeiten rührt aus der Antithese von „Innen“ und „Außen“. Der Künstler bekennt sich ausdrücklich zur „Hintergründigkeit“: Immer scheint Tieferliegendes durch die expressiv gestaltete Oberfläche zu treten.

Die Zweiteiligkeit der Gliederung drückt aber auch ein ästhetisches Programm aus: den Versuch „Abstraktes“ und „Inhaltliches“ miteinander zu verbinden und so widerstreitende oder zeitlich aufeinanderfolgende ästhetische Ideologien zu einer Synthese zu führen.

Den Impuls holt sich Kalina aus klassischer Musik, deren Rhythmen er in seinen Malereien aufnimmt und in gebundene Signaturen verwandelt. Tanz ist ein wesentliches Motiv. Kalina arbeitet nach dem Leben: Er beobachtet Tänzer und versucht das Gesehene unmittelbar ins Bild zu bringen.

Das Malen nach und in der Natur stellt ein bewusstes Anknüpfen an die alten Worpsweder – Mackensen, Overbeck, Vogeler, die Modersohns und wie sie alle heißen – dar. In naher Zukunft planen die Künstler von ART 99 eine Gemeinschaftsausstellungzum Thema „Rilke in Worpswede“.

Es gibt also Traditionslinien. Allerdings will man diese nicht zu sehr betonen. Einige Worpsweder Künstler, so berichtet Kalina, vermeiden es sogar, sich öffentlich mit ihrem Arbeitsort zu identifizieren: Sie fürchten, von der spontan sich einstellenden Assoziation mit Bustourismus und Sahnetorte erdrückt zu werden. Zeno Ackermann

Die Ausstellung „Menschenbilder“ ist bis 9. August in der Galerie ART 99 zu sehen.