Joschka: „Ey, das ist irre“

DER taz-SOMMERROMAN (III): Dr. Heinrich (45, Die Grünen) ist Ministerialrat in Jürgens Ministerium und neu in der Stadt. Frau und Familie überlässt er Bonn und dem Parteiprogramm. Er will sich am Hackeschen Markt mit dem neuen Berlin vereinen. Er trifft Patti Smith. Gloria?

Es war Sommer, immer mehr Sommer, jeden Tag, es hörte einfach nicht auf. Doktor Heinrich brauchte eine Frau. Gleich unter seiner Wohnung am Hackeschen Markt gab es draußen Tische, da setzte er sich hin, ganz spontan, weil er dort eine Frau sah, die ihn an Patti Smith erinnerte, eine Sängerin aus seiner frühesten Jugend. Später hatte er nur noch Bon Jovi gehört.

Joschka hatte in den 90ern die Oper (!) entdeckt und zu ihm gesagt: „Ey, das ist irre. Besser noch als Pink Floyd!“ Aber er war bei Bon Jovi geblieben, das war kompatibel mit dem Geschmack seiner meist parteilosen Untergebenen, vier oder fünf Leutchen noch aus Bonn.

Und jetzt Patti Smith.

Sie hatte muskulöse Arme und rauchte hemmungslos. „Wie die auf der Bank liegt ...“, sinnierte Dr. Heinrich und starrte unverwandt in ihre Richtung, „die rudert sicher, ist Schlagmann im Deutschland-Achter.“ Dann fiel ihm ein, dass man in diesem Land nicht werben dürfe, um eine Frau. „Da vergibt man sich etwas. Da löst man Verfolgungsängste aus.“ Er schüttelte den Kopf. Kranke Gesellschaft!

In dem Moment wurde er von einer jungen Spendensammlerin angesprochen, einer Christin, die für Straßenkinder in São Paulo um Geld bat. Er sah sie von oben bis unten an. Soso, ein Projekt für eine Suppenküche in Brasilien. Da war er selbst gerade gewesen. Keine Straßenkinder weit und breit, schon gar nicht vor „Suppenküchen“. Aber er mochte die junge Frau. Ihr freundlich-artiges „Guten Tag“. Sie hatte etwas vom langen Leiden einer schon 40-Jährigen und war dabei doch sicher erst 20. Umschattete, riesige Augen, ein fast ausgezehrtes Gesicht. Die Grünen wollten sich ohnehin der Kirche nähern. Er gab ihr einen Zehnmarkschein. Er fand, dass sie wirklich schön war, das Gegenteil von dieser ordinären Patti Smith.

Auch im Büro waren sie eher vulgär. Die zwei Tage im Bundesrat waren spannend. Aber dann wieder eine Woche den ganzen Tag in den Ausschüssen rumhängen. Dunkelblauer Anzug, hellblaues Hemd, gelbe Krawatte. Und das war noch „schick“. Es ging auch noch armseliger. Dunkles Jackett, schwarze Jeans, Rolli. Bei den Temperaturen.

Aber jetzt dieses Mädchen. Nackte Beine, nackte Füße, nur ein einziges Kleidungsstück, nämlich einen alten seltsamen Kittel mit Schottenmuster. Sie bedankte sich für das Geld, er wollte ihren Namen wissen, den er nicht verstand. Ein schwedischer Name. Sie sah aber nicht schwedisch aus, auch nicht deutsch, eher irisch, war der rötliche Typ, mit leichenweißer, schmerzlich weißer Haut und im Gesicht mit lauter Sommersprossen.

Ob sie bulimisch war? Oder nur eine fanatische Christin?

„Ich darf Ihnen doch Fragen stellen?“, zog Dr. Heinrich sie in ein Gespräch. Endlich einmal nicht über Wowereit und Outing sprechen, oder Verona und Alice Schwarzer. Sondern über das Christentum. Er sehnte sich plötzlich danach.

Dieses abgezehrte, arme Mädchen. Die Arme nur Knochen, Sehnen, Haut ... keine Schlagmann-Muskeln! Sie rührte ihn, und wie mit allen Ideologen kam man schnell mit ihr ins Gespräch. Morgens war wieder mal ein ICE entgleist, und Heinrich fragte: „Wie kann Gott es zulassen, dass 102 Menschen einfach im ICE sterben, wie beim letzten Mal, und diesmal nicht?“

Die Antwort kam sofort. Wir heutigen Menschen verhielten uns pervers arhythmisch zur Schöpfung. Wir seien von der Natur so geschaffen, uns mit vier bis fünf Stundenkilometern artgerecht fortzubewegen. Auch BSE gebe es nur, weil Natur und Boden nicht artgerecht und naturgerecht behandelt würden. Das Verhalten des nichtchristlichen Menschen sei unnatürlich und entartet. Dazu gebe es auch einen interessanten Vortrag gerade, zu dem sie gleich gehen würde.

Der Ministerialrat fand das interessant. Wenn der Vortrag auch so Blut-und-Boden-Argumente brachte, konnte Heinrich ein bisschen Stimmung gegen Schwarz-Grün bei seinem Minister machen. Jürgen liebte solche Sottisen. Auf dem Weg redeten sie über das Waldsterben und das Ozonloch. „Das Waldsterben gibt es weiter, man redet nur nicht mehr davon“, sagte sie und zog die sehr hohe Stirn in erstaunlich viele Falten.

Äh, das Waldsterben, da war er auf dem Papier Experte. Eigentlich. Aber seit den Tagen um den 9. November vor etwa einer Dekade, als er miterlebte, wie die gesamte Zweite Welt starb und der blöde Wald noch immer dastand wie und je, wie auch heute noch und in zwanzig Jahren oder fünfzig, fand er das ganze Waldsterben nicht mehr so sexy.

Er sah ihre Beine.

NÄCHSTEN SAMSTAG versucht Dr. Heinrich es mit einem Trick: „Meine Frau ist vor zwei Tagen gestorben . . . “ Wie wird die Christin reagieren?