Gummi geben und abzischen

In vierundzwanzig Stunden durch vier Länder – Tagebuch einer Europatour (I)

Heerlijk! Das holländische Brunssum ist eine Mischung aus Nordspanien und Rumänien

Donnerstag, 17.00 Uhr Am Mainzer Lerchenberg, an Bingen, Rheinböllen und Boppard vorbei. Nahe Waldesch in die Büsche geschlagen. Getränkestationen irgendeiner Art sind rund um die malerische Hunsrückhöhenstraße ungemein unbekannt. Rettung verspricht Rhens, kurz hinter der letzten großen Rheinschleife vor Koblenz. Also den Rücken des Hunsrücks buckelgerade hinuntergerutscht. Denkste! Man trinkt in der Ausflugsstadt Rhens nicht.

„Zo’n dorst!“ stöhnt Fahrer Roth, gibt Gummi und schiebt wenige Minuten später den Pkw auf den Parkplatz des Biergartens der Brauerei Königsbacher. Gewisse Menschen zischen in Volksmusiklautstärke das Zwicklbier Zischke. Abzischen! lautet die Devise, aber extreme Lotte!

18.15 Uhr

Aus der Weltkulturerbstadt Trier kommend, steigt Ausflügler Jöricke zu. Die beiden Kundschafter brausen in verschiedenen Kreisen über barocke Betonstelzenstraßen. Am Deutschen Eck donnert Jöricke los: „Koblenz! Isch könnt’ kotzen! Eckensteherstadt! Außerdem wollten wir nach Holland!“ Sie suchen und finden eine Autobahn und ein Sixpack Bitburger. „Das musste wohl sein“, jammert Jöricke und beißt der ersten Flasche den Drehkronkorken ab. „Een pintje voor de dorst!“ Die Stimmung steigt beträchtlich.

20.00 Uhr

„An den Hauptverkehrswegen Europas liegt Brunssum, in der Provinz Süd-Limburg, und schmiegt sich lieblich an seine Nachbarstadt, das niederländische Drogenzentrum Heerlen“, doziert der nunmehrige Copilot Roth und wirft das vierte Bit nach hinten. „Du solltest wissen“, gluckst er, „das war hier mal das Ruhrgebiet Hollands. Nichts als Kohle. Und dann kam die Nato.“ – „Und jetzt kommen wir“, triumphiert Jöricke und zerstört den dritten Gang. „Noch een flesje?“, quittiert Roth diese „Aktion“ und gerät in Wallung, da Heerlen, rechts der E 314 gelegen, sein architektonisches Gorgonenhaupt über wuschelnde Erlen- und Birkengehölze reckt.

20.32 Uhr

Anything „te koop“. Häuser wollen weg. Die Baulückenstadt Brunssum hängt zwischen Kerkrade, Spekholzerheide und Simpelveld herum. Bisschen Park, gelbes Gras, gestutzte Büsche. Heerlijk! Eine Mischung aus Nordspanien und Rumänien. Jöricke drosselt das Tempo und pulverisiert den Anlasser, der im Folgenden nur noch durch mechanische Einwirkung einer Bierflasche den Motor startet. „Lass uns eine Frikandel essen gehen“, schlägt er vor. „Du bist doch ook een gezondheitsfreak!“

Die Friture De Leeuw macht einen hervorragenden Eindruck. Das Amstel muss man an der Bushaltestelle zu sich nehmen. Jöricke und Roth ballern im Dienste der europäischen Einigung die Devisen nur so raus. Sie beschließen, sich die Betonstadt Brunssum am nächsten Tag etwas genauer anzusehen.

21.43 Uhr

Gangelt, wenige Kilometer nördlich von Brunssum im Dreiländersack untergebracht, die Weststadt Gangelt: empfängt die eine Übernachtung anvisierenden Europareisenden mit offenen Armen. Sie führen Atteste ihrer Hausärzte bei sich: zu 100,4 % hetero, keine offenen Blasen, selten bettnässend, randalieren und kochen nicht. Das verfängt kaum. Der Vormund („Moment, meine Frau badet gerade ihre Füße im Wasser“) der Pension „Zum Stadttor“ verlangt einen Ariernachweis bzw. geht wegen schwarzer Kleidung, langer Haare (Jöricke) und Hosenloch (Roth) die Mutter an, ob die beiden aufstrebenden EU-Kommissare das topmoderne Etablissement beehren dürfen.

Roth schwitzt Zigarettendünste aus und wird, nachdem die höflichen Besucher an der Tür schon mal die Zimmer bezahlen mussten, darauf hingewiesen, dass im ganzen Haus Rauchverbot herrsche.

22.17 Uhr

Im Erholungsgebiet Gangelt lägen „gute Gaststätten und Restaurants“, lügt die Broschüre des zuständigen Verkehrsamtes. „Da muss ich erst nachfragen“, quittiert die Bedienung inzwischen nicht mehr ganz überraschend der beiden Gäste Begehr, etwas Nahrung zu erhalten. „Die Küche ist zu“, heißt es, nachdem der Küchenchef hinter den Gardinen „die Fremden“ gemustert hat. Offenbar bemerkt man allerdings wenig später, dass man nun schlecht den anderen Gästen weiterhin diverse Speiseplatten bringen kann. Also bekommt Jöricke eine Currywurst mit Pommes und Roth einen kleinen gemischten und gemanschten Salat, der in jeder Bundeswehrkantine längst aussortiert worden wäre.

23.47 Uhr

Geringfügig entnervt kehren die toleranten EG-Fans zur Pension zurück. Wenigstens liegt die Luftfeuchtigkeit unter 80 Prozent. Kurz vor dem Schlafengehen entpuppt sich die im Tageslicht unscheinbare Gasse vor dem Gästehaus als Hauptverkehrsader zwischen Deutschland und den Niederlanden. Jöricke schließt das Fenster, auch wenn er sich bereits jetzt so fühlt, als sei er mit Prittstift eingerieben. Roth hingegen braucht frische Luft. In der Nacht reißt er zur besseren Zirkulation das Fliegengitter aus dem Rahmen.

CHRISTIAN JÖRICKE /

JÜRGEN ROTH

Teil 2 der Europatour morgen