Selbstläufer symbolischer Politik

Ein Verbot der NPD stand im Sommer 2000 nicht auf der politischen Agenda. Nur drei Monate später hatte sich das politische Klima komplett gewandelt

von CHRISTOPH SEILS

Anfang August 2000 wurde Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) vom Spiegel zu den Ursachen der dramatischen Zunahme rechtsextremer Gewalttaten befragt. Schily zeigte sich einigermaßen ratlos. Er sprach von einer „sehr diffusen Szene“, von „Einzeltätern“ und „Exzesstaten“, bei denen häufig Alkohol eine Rolle spiele. Gegenüber einem NPD-Verbot äußerte er sich skeptisch, „zumal man sich die Frage stellen muss, wie führe ich dann die Auseinandersetzung mit einer solchen Partei, wenn sie in den Untergrund gedrängt wird? Die Gefahr ist groß, dass ich ihre Militanz noch weiter erhöhe.“ In demselben Interview warnte der Innenminister: „Es gibt keine schnellen Lösungen und keine simplen Antworten.“ Wenig später wurde die Bundesregierung in einer kleinen Anfrage der PDS gefragt, wie viele rechtsextreme, antisemitische und ausländerfeindliche Straftaten im Jahr 1999 von Mitgliedern der NPD begangen worden seien. Otto Schily antwortete so knapp wie eindeutig: „Hierüber liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor.“

Ein mögliches Verbot der NPD stand im Sommer 2000 nicht auf der politischen Agenda. Weder der Verfassungsschutz noch die Parteien oder die Öffentlichkeit waren auf eine entsprechende Debatte vorbereitet. Nur drei Monate später hatten sich der Kenntnisstand der Bundesregierung, die Einschätzungen der NPD vollkommen gewandelt. Am 8. November 2000 beschloss das Bundeskabinett, ein Verbot der NPD zu beantragen. Neonazistische Gruppen seien in den letzten Jahren „immer gewalttätiger geworden“, heißt es in dem Verbotsantrag, „die Nationaldemokratische Partei spielt dabei eine wesentliche Rolle“. Bundestag und Bundesrat schlossen sich an. Nach der nun geäußerten Ansicht von Otto Schily sei der Verbotsantrag „gerade vor dem Hintergrund rechtsextremer Ausschreitungen das rechtlich und politisch gebotene Mittel, um die Prinzipien der wehrhaften Demokratie gegen ihre Feinde durchzusetzen“. Was hat den Stimmungsumschwung ausgelöst, welche Dynamik hat ihn beeinflusst?

Ein NPD-Verbot haben in den letzten Jahren viele Politiker und Verfassungsschützer gefordert – ohne Resonanz. Das änderte sich, als Bayerns Innenminister Günter Beckstein (CSU) die Bundesregierung am 1. August 2000 aufforderte, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Verbot zu stellen. Die politische und gesellschaftliche Debatte war eröffnet.

Die Politik stand im Sommer 2000 unter enormem Handlungsdruck. Erstens war die Zahl rechtsextremer Straf- und Gewalttaten dramatisch angestiegen. Darüber hinaus hatten mehrere Anschläge mit erwiesenem oder möglichem rechtsextremen Hintergrund Schlagzeilen gemacht. Am 14. Juni 2000 beispielsweise hatten drei Jugendliche im sachsen-anhaltinischen Dessau einen Mosambikaner brutal erschlagen. Am 15. Juli verübten rechtsextreme Jugendliche im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen einen Brandanschlag auf ein Asylbewerberheim. Am 27. Juli folgte in Düsseldorf ein Rohrbombenanschlag von bis heute unbekannten Tätern auf eine Gruppe jüdischer Emigranten aus Russland, bei dem in der öffentlichen Debatte – ohne dass dafür Indizien vorlagen – sofort ein rechtsextremer Hintergrund unterstellt wurde.

Hinzu kam zweitens, dass die NPD in den Jahren 1999 und 2000 den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit nach Berlin verlagert hatte. Am 29. Januar 2000 gelang es ihr, eine Demonstration mit etwa 500 Teilnehmern durch das Brandenburger Tor zu führen. Die Bilder der NPD-Demonstranten mit ihren Fahnen und Symbolen sowie ihren Parolen wie „Wir sind wieder da“ machten weltweit Schlagzeilen.

Die Reaktionen auf den Vorstoß von Günter Beckstein waren zunächst äußerst kontrovers, aber überwiegend skeptisch und ablehnend. So schlossen sich zwar die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, Sigmar Gabriel, Manfred Stolpe und Reinhard Höppner sowie der grüne Umweltminister Jürgen Trittin der Forderung an. Dagegen erklärte der nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrends: „Ein Verbot hilft nichts, das schadet eher.“ Die damalige Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, nannte die Forderung „juristisch unsinnig“, sie komme „einem Alibi gleich und geht am Kern des Problems vorbei“. Für die Bundesregierung erklärte Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Kabinett hätten Zweifel, „ob das jetzt die richtige Antwort ist“.

Alles sprach für ein taktisches Manöver des CSU-Innenpolitikers, um den politischen Gegner vorzuführen. Die Bundesregierung hatte die Bekämpfung des Rechtsextremismus im Sommer 2000 zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht. Vor allem die Bündnisgrünen sahen in dem Thema die Chance zur politischen Profilierung. Renate Künast etwa erklärte, der Kampf gegen rechts werde für die Grünen genauso ein Schwerpunkt wie die Atompolitik. Mit der Forderung nach einem NPD-Verbot gelang es Beckstein, das Thema Rechtsextremismus aus konservativer Sicht zu besetzen, die Bundesregierung beim Kampf gegen rechts in die Defensive zu drängen. Der CSU-Politiker hatte eine Debatte angestoßen, die zum Selbstläufer symbolischer Politik wurde.

Angesichts der Welle rechtsextremer Straf- und Gewalttaten wollte sich kein Politiker nachsagen lassen, er tue nicht genug im Kampf gegen den Rechtsextremismus, und anders als unter den Politikern fand sich in Meinungsumfragen schnell eine Mehrheit für ein NPD-Verbot. In einer Meinungsumfrage des Focus befürworteten dies bereits Mitte August 67 Prozent der Befragten. Wenig später schloss sich auch Bundeskanzler Schröder der Forderung nach einem NPD-Verbot an. Er bezeichnete dies nun als ein „Stück politischer Hygiene“.

Über den Verbotsantrag war also eine Vorentscheidung gefallen. Im Mittelpunkt stand nun die Frage: Lässt sich genügend Material finden, um das von der Politik erwogene Verbot der NPD zu begründen und vor dem Bundesverfassungsgericht durchzusetzen? Also ließ das Bundesinnenministerium den Ländern einen „Prüfkatalog für einen eventuellen Antrag auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD vor dem Bundesverfassungsgericht“ zukommen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie die Landesämter für Verfassungsschutz wurden beauftragt, belastendes Material zusammenzutragen.

Die politische Auseinandersetzung mit der NPD hatte einen neuen Fokus. Mit den Entschluss, Material zusammenzustellen, das ein NPD-Verbot begründen könnte, setzten sich die Politiker neuen Handlungszwängen aus. Stand die öffentliche Debatte zunächst unter dem Eindruck der Sorge, das Bundesverfassungsgericht könnte einen Verbotsantrag zurückweisen und der NPD zu einem Persilschein verhelfen, war die Mehrzahl der Politiker nun von einer anderen Sorge getrieben – dass nämlich schon der Verzicht auf einen Verbotsantrag von der NPD propagandistisch ausgeschlachtet würde. Sachsen-Anhalts Innenminister Manfred Püchel räumte ein, wie sehr die Politik in ihren Entscheidungen von der Diskussion um ein NPD-Verbot selbst beeinflusst wurde: „Im Übrigen, was wäre denn die Alternative? Verzichten wir auf einen Verbotsantrag, bedeutet dieses – nachdem die Diskussion so weit fortgeschritten ist – auch die Anerkennung der Verfassungskonformität der NPD.“

Dem Verfassungsschutz fiel bei der Debatte eine entscheidende Rolle zu. Zwar war die Forderung nach einem NPD-Verbot auch unter den Landesämtern für Verfassungsschutz umstritten, aber der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, ließ keinen Zweifel daran, dass seine Behörde sich an den Vorgaben der Politik orientiert: „Es ist nicht die Aufgabe des Verfassungsschutzes, sich in die politische Diskussion einzumischen. Wir liefern die Erkenntnisse, auf deren Grundlage die Politik über den Verbotsantrag entscheidet.“ Ein 560 Seiten starkes, geheimes Dossier wurde zusammengestellt, von dem allerdings nur eine Zusammenfassung veröffentlicht wurde.

Noch im Verfassungsschutzbericht des Jahres 1999 war weder von einer Wesensverwandtschaft der NPD mit der NSDAP noch von einer aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung, wie sie Voraussetzungen für ein Verbot wären, die Rede. Über die Beteiligung von NPD-Mitgliedern an rechtsextremen Straftaten gibt es keine Angaben. Dass die NPD die Schaltzentrale der rechtsextremen Gewalt wäre, auch davon berichtet der Verfassungsschutz nicht. Noch im August 2000 berichtete die Süddeutsche Zeitung im Gegenteil über einen Wochenbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz, in dem die Einschätzung geäußert wird, die NPD-Führung habe sich in der Vergangenheit regelmäßig und glaubhaft von Gewalttätern distanziert.

Das war jetzt anders. Allein die veröffentlichte Zusammenfassung spricht von „rund 80 Ermittlungsverfahren im Zeitraum 1996 – 2000 gegen NPD-Mitglieder/Anhänger wegen des Verdachts der Begehung von Straftaten“ sowie von „mehr als 120 strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen des Verwendens von NS-Kennzeichen nach § 86 a StGB“. Das Dossier listet zahlreiche Fälle auf, zitiert NPD-Mitglieder, um die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus zu belegen, zitiert bislang unbekannte Äußerungen von NPD-Funktionären. Abschließend heißt es, nun mit einem ganz anderen Tenor als in den Verfassungsschutzberichten der letzten Jahre, die NPD „verfolgt ihre verfassungsfeindlichen Ziele in aktiv-kämpferischer, aggressiver Weise“, sie stelle „eine ernsthafte Gefahr für die Verfassungsordnung dar. Ein milderes Mittel als ein Verbot steht zur Abwehr der von der NPD ausgehenden Gefahr nicht zur Verfügung.“

Es gibt drei Möglichkeiten, diesen bemerkenswerten Erkenntnisgewinn zu erklären. Entweder der Verfassungsschutz hat die Bürger jahrelang über die Gefährlichkeit der NPD im Unklaren gelassen; oder die Vertrauensleute des Verfassungsschutzes in der Szene haben erst im Lichte der aktuellen politischen Debatten ihren Arbeitsauftrag ernst genommen. Vieles spricht allerdings für die dritte Variante: Es gab beim Verfassungsschutz keine neuen Erkenntnisse, sondern die vorhandenen wurden unter dem Druck der Politik nur anders bewertet bzw. als vermeintlich neue Erkenntnisse öffentlichkeitswirksam präsentiert. Die Bild-Zeitung berichtet Anfang Oktober von einem internen Lagebericht, der sich skeptisch über ein Verbot äußert. Ende Oktober zitiert die Welt einen Geheimbericht des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, in dem es unter anderem heißt: „Es besteht das nicht geringe Risiko, dass der Antrag auf Verbot der NPD als nicht begründet abgewiesen wird. (. . .) Das vorhandene Material belegt eindeutig und ausreichend die verfassungsfeindliche Zielsetzung der NPD (. . .) Problematisch ist jedoch die Aussagekraft der Beispiele für eine aktive kämpferisch-aggressive Haltung der NPD.“ In dem Bericht, dessen Authentizität und Bewertung von Verfassungsschützern bestätigt wird, heißt es weiter, die Verfassungsschutzbehörden hätten „lediglich 25 Informationen“ gewinnen können, aus denen eine Gewaltbereitschaft der NPD abgeleitet werden könne. Es sei fraglich, „ob die einzelnen Gewalt bejahenden Beispiele bei der Entscheidung des BverfG als maßgeblich und mitentscheidend für die Verfassungswidrigkeit gewertet werden“. Trotz aller intern geäußerten Bedenken hatte der Verfassungsschutz der Politik zuverlässig zugearbeitet.

Im Lichte dieser vermeintlich neuen Erkenntnisse gelang es innerhalb weniger Wochen, in allen Parteien außer der FDP innerparteiliches Einvernehmen zur Frage eines NPD-Verbots herzustellen. Vor allem die Regierungsparteien SPD und Grüne schwenkten um. Am 9. November 2000 schlossen sich im Bundestag die SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und die PDS, von einzelnen Enthaltungen abgesehen, der Forderung nach einem NPD-Verbot an. Viele Abgeordnete hatten ihre Bedenken zurückgestellt. Die Überlegung, dass Parteienverbote dem Geist der freiheitlichen parlamentarischen Demokratie widersprechen, dass eine gefestigte Demokratie die Souveränität haben sollte, dass sich auch ihre Gegner der demokratischen Rechte bedienen, dass eine freiheitliche Gesellschaft auch falsche und dumme Lehren aushalten muss, spielten kaum mehr eine Rolle. Die Politik war dem enormen Handlungsdruck, den sie selbst erzeugt hatte, erlegen.

Wie sehr vor allem die Bundestagsabgeordneten von SPD, Grünen und PDS von dem Wunsch getrieben waren, ein politisches Zeichen im Kampf gegen rechts zu setzen, zeigen auch zwei problematische Tatsachen. Den Abgeordneten lag zur Abstimmung weder ein ausformulierter Verbotsantrag vor, noch war ihnen ein Großteil der Fakten, die die Verfassungsschützer zusammengetragen hatten, bekannt. Lediglich in der Geheimschutzstelle des Bundestages konnte das 560-seitige Dossier eingesehen werden. Davon machten nur wenige Abgeordnete Gebrauch. Und selbst in dieser Fassung fehlten einige heikle Passagen. Das heißt, ein Großteil der Fakten, Argumente und Beweise, auf die sich die Verbotsanträge stützen, war den Abgeordneten nicht bekannt.

Im Herbst wird vermutlich die Verhandlung über das NPD-Verbot vor dem Bundesverfassungsgericht beginnen. Vor allem zwei Dinge sprechen dafür, dass die Antragsteller Erfolg haben werden und die NPD verboten wird. Erstens: Die Richter sind einem enormen Druck der Politik und der öffentlichen Meinung ausgesetzt. Dem werden sie sich kaum entziehen können. Zu groß wäre die Empörung über einen Freispruch der NPD , den die Partei und ihre Anhänger als verfassungsrechtlichen Persilschein feiern würden. Zweitens lieferte die NPD mit ihrer politischen Verteidigungsstrategie sowie völkischen, antidemokratischen und antisemitischen Ausführungen in ihren Stellungnahmen vor dem Bundesverfassungsgericht eine Steilvorlage für ein Verbot.

Auf die Frage allerdings, ob und wie sich die rechte Jugendkultur weiter ausdehnt, ob sich rassistische Gewalt weiter ausbreitet oder wie sie eingedämmt werden kann, wird das wahrscheinliche NPD-Verbot wenig Einfluss haben. Schon jetzt sortiert sich die neonazistische Szene neu. Militante Neonazis und autonome rechte Kameradschaften gewinnen an Bedeutung. Selbst die NPD scheint mit ihrem Verbot zu rechnen. Auch in diesem Sommer gibt es wieder zahlreiche rechtsextreme Gewalttaten. Ein Thema öffentlicher Empörung sind sie nicht. Für die etablierten politischen Parteien und weite Teile der Öffentlichkeit scheint das Thema abgehakt. Die Bekenntnisse der Politiker, dass sich die Bekämpfung rechtsextremer Gewalt nicht in der Verbotsdebatte erschöpfen dürfe, stehen dabei in eklatantem Widerspruch zu dürftigen weiteren Aktivitäten. Alle Fragen, die Bundesinnenminister Otto Schily in dem in der Einleitung zitierten Spiegel-Interview im August 2000 aufgeworfen hatte, wie der diffusen rechtsextremen Szene begegnet und wie sich die Gesellschaft und die Politik mit den Anhängern der NPD auseinander setzen können, wenn diese in den Untergrund gedrängt worden sind, sind bis heute von der Politik unbeantwortet geblieben. Von einem breiten gesellschaftlichen Aufbruch im Kampf gegen rechts ist nicht viel zu spüren. Der „Aufstand der Anständigen“ ist in symbolischen Gesten und ratlosem Aktionismus versandet. In der Debatte um das NPD-Verbot, die mit dem Verbotsantrag endete, fanden die politische Ratlosigkeit angesichts der dramatisch zunehmenden rechten Gewalt und die öffentliche Empörung im Sommer 2000 ein politisches Ventil. Mehr nicht.