Tee so weit das Auge reicht

Der Tee sieht gut aus in diesem Jahr. Morgen wird Yasar Kara mit der Ernte beginnen. Doch ob sein Hauptabnehmer zahlen kann, ist ungewiss

aus Rize JÜRGEN GOTTSCHLICH

Der Regen tropft von der Nase, das Hemd klebt am Körper, in den Stiefeln qietscht das Wasser. Yasar Kara scheint das nicht zur Kenntnis zu nehmen. Stolz zeigt der fünfzigjährige Bauer auf einen begrünten Hügel. „Von dort oben bis an den Bach unten geht mein Feld.“ Er deutet auf endlose grüne Reihen von ungefähr ein Meter hohen Büschen. Selbst an den steilsten Hängen wächst die camellia chinensis – der Teestrauch. Die Qualität der Blätter wird in den höheren Lagen immer besser. Morgen will Yasar Kara mit der Ernte beginnen.

In den tieferen Lagen hat sie bereits begonnen. Frauen arbeiten sich langsam durch die Felder. Jede hat eine Art Heckenschere in der Hand, an der ein Beutel befestigt ist, sodass die Teeblätter bei jedem Schnitt aufgefangen werden. Die kleinen Beutel werden in große Säcke entleert, die die Männer zur Strasse schleppen, von wo sie per Traktor weiterbefördert werden.

Der Tee sieht gut aus in diesem Jahr, es hat ordentlich geregnet, und es ist heiß. Tee braucht subtropische Bedingungen: Bei 35 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit von über 80 Prozent wächst er am besten. Während in China, Nordindien und auf Sri Lanka ganze Landstriche diese Bedingungen erfüllen, ist es in der Türkei nur eine kleine Region: die regenreichen Berghänge im östlichen Schwarzmeergebiet, kurz vor der Grenze zu Georgien. Zentrum der Region ist Rize, eine Hafenstadt am Schwarzen Meer, von wo der Tee seinen Weg in die gesamte Türkei und nach Europa nimmt.

Überleben mit Cay-Kur

Die Stadt Rize ist eine Zumutung. Zehngeschossige, zumeist halbfertige Betonkästen erstrecken sich Reihe um Reihe ins Land hinein, ohne Infrastruktur und bar jeder Urbanität. Das Panorama verändert sich schlagartig, wenn man von Rize aus nur wenige Kilometer ins Land fährt. Plötzlich ist alles sattgrün, wird die Straße von einer anmutigen Landschaft gesäumt. Die Hänge sind von den grünen Sträuchern überzogen. In jahrzehntelanger Arbeit sind sie terrassiert und mit Teesträuchern bepflanzt worden.

Caykent, übersetzt heißt das Teestadt, liegt ungefähr 20 Kilometer landeinwärts inmitten immergrüner Teeberge. Jeder lebt hier vom Tee. Reich sieht der Ort nicht aus, doch Teebauer Yasar Kara will nicht klagen. Wenn die Teeaufkäufer rechtzeitig zahlen würden, meint er, wäre alles in Ordnung. Doch sie zahlen nicht. Auf das Geld von der Ernte des letzten Jahres wartet er immer noch. Wirtschaftlich überleben kann er nur durch Cay-Kur. Cay-Kur ist die staatliche Teegesellschaft, die bis Mitte der 80er-Jahre ein Monopol hatte und auch heute noch den größten Teil des türkischen Teemarktes beherrscht. Cay-Kur, so Yasar Kara, ist der einzige Abnehmer, der gleicht zahlt. Doch leider nimmt er nur einen Teil seiner Ernte ab. „Maximal 300 Kilo pro Dönüm [etwa 1.000 Quadratmeter] kauft Cay-Kur. Den Rest muss ich privat losschlagen“. Da ein Dönüm in guter Lage bis zu einer Tonne nassen Tee – das sind die frisch geschnittenen Blätter – bringt, muss Yasar Kara gut die Hälfte seiner Ernte an private Teefabriken verkaufen. Die zahlen erst, wenn sie ihr Produkt selbst wieder verkauft haben, und das kann dauern.

Cay-Kur, sagt denn auch Haydar Eroglu vom Teeforschungsinstitut in Rize, ist die „Überlebensversicherung“ für die Teebauern. „Ohne Cay-Kur wäre der Teeanbau in der Türkei bald tot.“ Obwohl Haydar Eroglu noch im Konjunktiv redet und alle anderen Teeproduzenten das Thema lieber ganz meiden, droht dieses Szenario schon bald Realität zu werden. Die Türkei wird seit Anfang dieses Jahres von der schwersten Wirtschaftskrise in ihrer Geschichte erschüttert, und der Internationale Währungsfonds, der die rettenden Milliardenkredite bereitstellen soll, macht seine Unterstützung von weitreichenden Reformen abhängig. Vor allem die Agrarsubventionen sollen massiv reduziert und staatliche Betriebe privatisiert werden. Einer dieser Staatsbetriebe wird wohl Cay-Kur sein. Nachdem die Regierung bereits ein Gesetz zur Privatisierung der staatlichen Tabak- und Alkoholgesellschaft Tekel beschlossen hat, dessen Umsetzung zur Zeit aber noch vom Staatspräsidenten blockiert wird, fürchten in Rize alle, dass Cay-Kur als nächstes dran ist.

„Dienstleister für die Türken“

Safak Basa residiert in der Zentrale von Cay-Kur, einem der wenigen Prachtbauten in Rize. Er ist der Marketingchef des Staatskonzerns und glaubt zumindest offiziell nicht an eine Privatisierung. „Cay-Kur hat seit zwei Jahren vom Staat kein Geld mehr bekommen“, behauptet er, „warum sollte man uns privatisieren? Wir machen zwar keinen Profit, aber wir reißen auch keine Löcher in den Staatshaushalt.“ Engpässe, so Safak Basa, werden durch Kredite der staatlichen Banken überbrückt. Genau hier liegt eines der Probleme der türkischen Ökonomie. Die staatliche Landwirtschaftsbank, Ziraat-Bankasi, war mit ihrer hohen Verschuldung einer der wesentlichen Auslöser der Krise. Deshalb fordert der IWF zuerst eine Reform des staatlichen Bankensektors.

Während das gehobene Management von Cay-Kur so tut, als leite es einen gesunden Konzern, der auch eine Privatisierung schadlos überstehen könnte, machen sich die Angestellten vor Ort keine Illusionen. Am Rande von Caykent, dem Städtchen inmitten der malerischen Teeberge, stößt ein fünfzig Meter hoher Schlot schwarzen Dreck in die Luft, der an ein Stahlwerk denken lässt. Tatsächlich ist es eine der vielen Teefabriken, wo das Rohprodukt zu „trockenem Tee“ verarbeitet wird, Tee, den man später im Laden kauft. Mehmet Bey arbeitet schon jahrelang in seiner Teefabrik, er führt uns durch die Hallen. Immer wieder entschuldigt er sich für den heruntergekommenen Eindruck, den die Cay-Kur Fabrik macht, obwohl ein Teil der Anlagen bereits modernisiert wurde. Die Fabrik ist ein Paradebeispiel türkischer Staatsbetriebe. 500 Leute stehen hier auf der Lohnliste, ungefähr 200, erzählt Mehmet Bey hinter vorgehaltener Hand, arbeiten wirklich, und mit der Hälfte könnte man den Laden schmeißen, wenn die Arbeit besser organisiert und die Anlagen modernisiert würden.

Fabriken wie diese sind ein Grund, warum türkischer Tee für den Weltmarkt zu teuer ist: Die Produktionskosten sind einfach zu hoch. Hinzu kommt, dass in Indien, Sri Lanka oder Kenia das Klima elf Monate im Jahr den Tee wachsen lässt und deshalb fünf bis sechs Ernten pro Jahr möglich sind, es in Rize dagegen nur vier Monate warm genug ist. Teebauern wie Yasar Kara können deshalb drei Ernten im Jahr einbringen, zur Zeit findet der zweite Schnitt statt. Die Türkei produziert rund 180.000 Tonnen Tee im Jahr und ist damit fünftgrößter Teeproduzent weltweit. Lediglich 10.000 Tonnen werden exportiert, alles andere dient dem inländischen Verbrauch. Tee ist hier das Alltagsgetränk. Noch in der ärmsten Hütte summt den ganzen Tag über ein Teekessel; und Tee ist das Einzige, was sich die hunderttausenden Arbeitslosen oder Gelegenheitsjobber, die den größten Teil des Tages im Kaffeehaus verbringen, überhaupt leisten können. Nicht ohne Berechtigung sagt Cay-Kur-Marketingchef Safak Basa deshalb, sein Betrieb sei kein normales Unternehmen, sondern ein „Dienstleister für das türkische Volk“. Wenn Cay-Kur als privatisiertes Unternehmen Profit machen sollte, müsste der Betrieb den Großhandelspreis für ein Kilo Tee von jetzt umgerechnet 7 Mark auf rund 15 Mark erhöhen. Man kann sich leicht ausmalen, was das für die ärmsten der Armen in der Türkei bedeuten würde.

Der weltweit einzige Ökotee

Die Chance, durch Exporte Geld zu verdienen, schätzt Basa gering ein. „Der Weltmarkt wird von englischen Konzernen beherrscht, die ihren Tee in Sri Lanka und Indien produzieren. Ein türkisches Unternehmen“, fürchtet er, „hätte da wenig Möglichkeiten“. Allerdings werden die wenigen Möglichkeiten bislang auch nicht genutzt. Im Unterschied zu allen anderen Teeanbaugebieten weltweit gibt es in Rize keinen Schädlingsbefall und deshalb auch keine chemische Schädlingsbekämpfung. Der türkische Tee ist der einzige Öko-Tee weltweit, doch erst in diesem Jahr – die drohende Privatisierung vor Augen – ist man bei Cay-Kur auf die Idee gekommen, dass das ja ein Verkaufsargument sein könnte.

Doch Teebauern wie Yasar Kara wird das im Falle einer Privatisierung von Cay-Kur nicht viel nützen. Schon jetzt kann er vom Tee allein nicht leben. „Früher“, erzählt er, „bedeutete Teeanbau vier Monate arbeiten und acht Monate schlafen.“ Heute gehen alle im Winter in die Stadt, sogar bis nach Istanbul, um mit einem Zweitjob die Familie zu ernähren. Zwei Millionen Menschen sind in der Türkei im Teeanbau beschäftigt. „Wenn sie Cay-Kur privatisieren“, fürchtet der Wissenschaftler Haydar Eroglu, „werden die meisten von ihnen ganz in Istanbul bleiben und die türkischen Teeplantagen langsam aber sicher verwildern.“ Türken, die es sich leisten können, werden dann Lipton-Tee trinken.