Chaos ist Fortschritt

Ohne es zu wollen, tragen ausgerechnet die Globalisierungsgegner dazu bei, dass die Welt zusammenwächst. Aus Anarchie entsteht Ordnung – der Jesuit de Chardin hat Recht

Staaten funktionieren wie Moleküle: Erststreben sie zueinander, dann geratensie in eine Krise

Nicht nur die Chaoten waren in Genua chaotisch. Auch die friedliebenden Demonstranten wussten nicht, was sie eigentlich wollten. Denn worauf läuft ihre Abneigung gegen McDonald’s, AOL-Time Warner und Monsanto hinaus? Auf eine globale Anti-Trust-Politik? Dann müssten sie das sagen und eine mächtige Weltzentrale verlangen, die sich gegen die Mammutunternehmen durchsetzen kann. Davon ist aber nicht die Rede. Nur die geforderte Tobin-Steuer geht in diese Richtung.

Im Übrigen aber gilt das Prinzip small is beautiful. Um die schwachen Ökonomien herum sollen Zäune aufgestellt werden. Sind die Globalisierungsgegner auf Schutzzölle aus? Oder streben sie womöglich den „geschlossenen Handelsstaat“ an (wie Fichte 1800 sein Gegenmodell zu dem damals gerade aufgekommenen liberalen Konzept von Adam Smith nannte)? Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Ihr Protest war blind.

Staatsabgeneigt wie die Globalisierungsgegner sind, verkennen sie, dass es nicht darum gehen kann, den globalen Austausch abzuschaffen, sondern seine zentrale Überwachung einzuführen – also eine Weltregierung zu etablieren. Auch die sonst so ordnungsliebenden Regierungschefs denken nicht in diese Richtung. Begreiflicherweise – sie würden ja ihre eigene Desouveränisierung verlangen. Lieber zucken sie mit den Schultern.

War Genua deshalb sinnlos? Nein. Das von Knallkörpern umtobte, von Tränengas umnebelte Treffen der Herren dieser Welt war ein großartiges Theater. Es war Ausdruck. Es brachte der Welt zum Bewusstsein, dass sie sich in dem Zustand brodelnder, gärender Anarchie befindet; in dem Vorzustand einer Metamorphose.

Das ist neu. Denn eigentlich ist die Weltgesellschaft, die noch nie eine Ordnung hatte, an Anarchie gewöhnt. Plötzlich aber ist ihre Unorganisiertheit ein explosiver Zustand. Die Regierungschefs müssen sich, wenn sie das nächste Mal zusammenkommen wollen, in den kanadischen Wäldern verstecken.

Mit Nostalgie blickt man jetzt auf die ersten, ruhigen Gipfeltreffen am Kamin zurück – als hätte man es seitdem mit einem Rückschritt zu tun. Tatsächlich aber ist das Chaos, das die Treffen in letzter Zeit umtobt, Zeichen eines Fortschritts: des Fortschritts der Kohäsion der Welt. Die mit Ach und Krach verlaufenden Gipfeltreffen sind ein Zeichen dafür, dass die heterogenen Weltteile, die sich bisher nur vernetzt haben, kurz davor sind, sich auch zu ordnen – und das heißt: sich in einer Weltregierung zu bündeln. Die gegenwärtige Panik ist ein Hinweis auf die anstehende Metamorphose der Welt in einen verfassten, zentralisierten Zustand.

Jedenfalls lässt sich die Situation so beschreiben, wenn man sie mit den Augen Teilhards de Chardin sieht. Dieser von 1881 bis 1955 lebende Jesuit war Paläontologe; er betrachtete also die Evolution von ihren frühsten Anfängen an. Sein Blickwinkel reichte von der toten Materie bis zum menschlichen Geist. Weil er in diesem Prozess Fortschritt sah und diese Linie weiter in die Zukunft hinein auszog, wurde er von seiner Kirche nach China verbannt und mit einem Publikationsverbot belegt. Denn das Dogma der Erbsünde lässt den Gedanken nicht zu, dass die Menschheit schon hienieden wesentliche Schritte zu ihrem Heil macht.

Die katholische Kirche hat Teilhard nach seinem Tod rehabilitiert; der Zeitgeist aber kann mit seinen Ideen genauso wenig anfangen wie mit allen anderen Konzepten, die im Geschichtslauf ein Ziel sehen, ein Telos, auf das sich das Geschehen hin ausrichtet. Immer noch in der postmodernen Gegenbewegung zum Marxismus befangen, sieht er nur Punkte und keine Linie, nur Stücke und kein Ganzes, nur Besonderes und kein Allgemeines. Als ließe die Weltgeschichte vom Einzeller bis zu den Vereinten Nationen keine Tendenz zu größerer und höherer Ordnung erkennen! Der Zeitgeist wehrt sich gegen die Vorstellung, dass die Menschheit mit der Gründung einer geordneten Weltverfassung einen weiteren evolutionären Sprung tun könnte. Genau wie die katholische Orthodoxie traut er dem Menschen nichts zu: Hienieden ist alles sinn- und zwecklos.

Teilhard aber war hoffnungsvoll, und die jüngsten Ereignisse hätte er als Bestätigung aufgefasst. Seine paläontologischen Forschungen nämlich hatten ihn zu der Erkenntnis gebracht, dass alle evolutionären Sprünge nach ein und demselben Prinzip erfolgen: Erst streben die Moleküle zueinander und agglomerieren; dann geraten sie durch die zunehmende Enge in eine Krise, die sie dadurch lösen, dass sie ein leitendes Zentrum ausbilden, dem sich die Teile unterwerfen. Beim Lebewesen ist das der Kopf. Nach dem griechischen Wort für Kopf, kephalos, nannte Teilhard den Vorgang „Kephalisierung“.

Dieser Vorgang setzt sich auf immer höheren Ebenen fort und macht in den vom Gehirn gesteuerten Individuen nicht Halt. Auch sie rücken in sozialer Agglomeration immer näher aneinander heran, bis das Gebilde in Kephalisierung umschlägt. So bildeten sich Staaten, und so wird sich, nach Teilhards Ansicht, auch die „Planetisation“ der Menschheit entwickeln: „Die auf dem Planeten geborene und über den ganzen Planeten verbreitete Menschheit bildet nach und nach [. . .] eine einzige, in sich selbst geschlossene höhere organische Einheit. Ein einziges hyperkomplexes, hyperzentriertes und hyperbewusstes Übermolekül, das koextensiv ist mit dem Gestirn, auf dem es entstanden ist.“

Als Gegenbewegung zum Marxismuswill die Postmodernekein Ziel in derGeschichte sehen

Aber: „Alles, was nicht zu Ende organisiert ist, muss unausweichlich unter seiner residuellen Unorganisation und seiner möglichen Desorganisation leiden: dieser Art ist die menschliche Situation.“ Die zunehmende Verkittung der Welt bringt zunächst eine Panik hervor, eine regressive Pulverisierung, die zu Teilhards Lebzeiten zweimal zum Weltkrieg führte. Die Repartikularisierung, auf die die Globalisierungsgegner heute aus sind, ist vergleichsweise harmlos. Aber auch sie ist regressiv. Denn statt auf die Kephalisierung ist sie auf das Auseinanderfallen der Welt ausgerichtet. Statt die Staatsmänner dazu aufzufordern, eine demokratische Weltzentrale aufzubauen, wollen sie die Welt wieder in Stücke fallen lassen.

Weltstaat wird immer noch allzu schnell mit Universal-Totalitarismus gleichgesetzt. Der Blick ist verstellt dafür, dass schon in der Gegenwart wesentliche Elemente eines Weltstaates vorhanden und im Begriff sind, sich weiterzuentwickeln. Aber: Ansatzweise regelt eine Weltbank die Geldströme, ansatzweise vergilt eine Weltjustiz die schlimmsten Verbrechen, ansatzweise entscheidet ein Weltgremium über Krieg und Frieden. Auch die wichtigste Voraussetzung – eine universale Mentalität – hat sich mit der Idee der Menschenrechte bereits erfüllt. Auf ihrer Grundlage kann ein Weltstaat demokratisch und gerecht gestaltet werden.

SIBYLLE TÖNNIES