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Alptraum Grosny

„Grosny“ ist das russische Wort für „schrecklich“. Nach zwei Kriegen Russlands gegen die separationswillige Nordkaukasusrepublik bietet die tschetschenische Hauptstadt heute ein Bild apokalyptischer Zerstörung. Eine Reportage von einem Ort, an dem es keine Hoffnung mehr gibt

von BOSTJAN SLATENSEK

„Ich vertraue niemandem außer meiner Mutter, meinem Bruder und mir selbst.“

Angst ist das erste Gefühl in Grosny. Die Angst ist allgegenwärtig. Man kann sie von den nervösen Gesichtern junger russischer Soldaten ablesen, die an einem der vielen Kontrollpunkte postiert sind, und von den Gesichtern der tschetschenischen Einwohner. Wie Verlorene huschen sie durch die zerstörten Straßenzüge ihrer Stadt, die einstmals stolz und schön war. Verstörte Kinder klammern sich an die Hand ihrer Eltern. Herrenlose Hunde streunen winselnd durch Grosnys Ruinen. Es ist ein beklemmendes, lähmendes Gefühl, das auch von dem Besucher Besitz ergreift und ihn erst wieder loslässt, nachdem er Grosny längst wieder verlassen hat.

Der Himmel über der Stadt ist schwarz von Ruß. Seit den letzten Kämpfen sind die Pipelines, die sich vom Kaspischen zum Schwarzen Meer quer durch Tschetschenien erstrecken, an vielen Stellen beschädigt. Von den Bränden steigen dichte Rauchsäulen auf und lassen Grosny wie die surreale Szenerie eines Alptraums erscheinen.

Vor zweihundert Jahren haben die Russen Grosny als Militärfestung errichtet, als Basis zur Beherrschung Tschetscheniens wie des gesamten Nordkaukasus. Die Namensgebung war typisch für die Kolonialpolitik Russlands: Grosny – „die Schreckliche“. Was einst als Abschreckungsname gedacht war, hat sich heute gegen Russland selbst gewendet.

„Die erste Phase der russischen Antiterroroperation in Tschetschenien ist beendet“, behauptet die russische Führung seit dem vergangenen Herbst. Derzeit unternehme man Spezialeinsätze, um die letzten Reste „bewaffneter tschetschenischer Banden“ auszuschalten. Der zweite russisch-tschetschenische Krieg, der im Herbst 1999 begann, ist offiziell vorbei. Aber vom Frieden ist Tschetschenien so weit entfernt wie zuvor.

Südöstlich von Grosny, am Rand der ersten Vorstadtsiedlungen, liegt der russische Militärstützpunkt Hankala. Fast pausenlos landen hier riesige Transporthubschrauber. Je mehr man sich der Stadt nähert, desto schlechter wird der Zustand der Straße. Seit dem Krieg hat sich niemand darum gekümmert, die Schäden zu reparieren. Neben der Straße verrotten Teile von russischem Kriegsgerät. Ein Schild, auf dem „Grosny“ in kyrillischen Buchstaben steht, heißt den Besucher willkommen.

Kurz dahinter ist der erste Kontrollpunkt eingerichtet, eine Bunkeranlage aus gewaltigen Betonblöcken, an denen Sandsäcke aufgetürmt sind. Aus den Schießscharten sind Gewehrläufe auf den Besucher gerichtet, während russische Soldaten und Polizisten die Ausweispapiere in einer Weise kontrollieren, als befänden sie sich mitten in einem Kriegsgebiet.

Hinter dem Kontrollpunkt bietet sich ein Bild der Zerstörung. Der Stadtteil rund um die strategisch bedeutsame Minutka-Straße, die von den Russen Anfang vorigen Jahres nach wochenlangen Kämpfen eingenommen wurde, ist vollständig ausgelöscht. Fünf Jahre zuvor, im ersten russisch-tschetschenischen Krieg, hatte die russische Armee hier ihre demütigende Niederlage erlitten. Heute sind von den zwölfstöckigen Hochhäusern der Minutka-Straße nur noch Trümmerhaufen übrig.

„Wir können die Situation in Grosny nicht einmal tagsüber kontrollieren, geschweige denn nachts“, sagen die russischen Soldaten. „Wir müssen aufpassen, dass uns selbst nichts passiert.“ Die tschetschenischen Kämpfer, sagt ein Soldat aus Murmansk, arbeiten zu dritt. „Die ersten beiden nehmen uns mit automatischen Waffen unter Beschuss. Wenn wir zurückschießen, wissen sie, wo wir postiert sind, und unser Schütze wird von ihrem dritten Mann erschossen.“ Das russische Hauptquartier in Grosny sieht aus wie eine Festung. Überall sind Scharfschützen postiert. Auf dem Dach ist ein Flugabwehrgeschütz installiert, daneben weht die russische Fahne.

Grosnys Hauptstraße war früher eine prächtige Allee. Heute werden hier auf wackligen Ständen Nahrungsmittel, Kleidung und Benzin angeboten. Das Benzin wird in großen Glasbehältern verkauft, die zehn Liter fassen und 35 Rubel kosten. Es wird direkt in Grosny in illegalen Raffinerien hergestellt. Von den 1.000 bis 1.500 Tonnen Öl, die täglich in Tschetschenien gefördert werden, wird mindestens ein Drittel gestohlen und auf dem Schwarzmarkt verschoben. Die ganze Stadt wirkt verlassen. Selbst der Markt ist kaum belebt. Von den einstmals vierhunderttausend Einwohnern ist nur noch ein Fünftel übrig.

In ganz Tschetschenien, das vor dem Krieg 1,3 Millionen Einwohner hatte, leben heute so viele Menschen wie früher allein in Grosny. Aber das sind Schätzwerte, genaue Zahlen kennt niemand. Das Interesse an möglichst hohen Einwohnerzahlen ist allerdings groß, weil sich danach die internationale humanitäre Hilfe für Tschetschenien und Grosny richtet. Tatsächlich sind nach Angaben von Hilfsorganisationen bislang nur wenige Flüchtlinge aus den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan zurückgekehrt.

Nur tagsüber sind in Grosny Menschen zu sehen. Sie tragen Lumpen oder zerrissene Uniformen. Sobald es Abend wird, verschwinden sie von den Straßen. Die Zivilisten, die nichts mit der russischen Autorität zu tun haben. Das Mädchen, das Erdbeeren an die Soldaten verkauft hat. Die Taxifahrer, die vergebens auf Fahrgäste gewartet haben. Auch die wenigen schäbigen Restaurants schließen. Dieser Abend ist ungewöhnlich ruhig, fast friedlich. Hitze liegt über der Stadt. Die Luft ist voller Rauch und Staub, der erbarmungslos auf der Haut und an der schweißnassen Kleidung festklebt.

Dann, plötzlich, beginnen die Kämpfe. Zuerst scheint alles weit weg zu sein. Einzelne Schüsse durchschneiden die Stille, gefolgt von Explosionen. Druckwellen sind zu spüren. Der Lärm wird immer lauter, dringt vor ins Zentrum der Stadt, wo die Gefechte in aller Stärke ausbrechen. Die Nächte gehören in Grosny niemandem – nicht den russischen Soldaten, die sich in ihren Bunkern verschanzen; nicht den tschetschenischen Rebellen, die sich in den Häuserruinen verstecken; nicht einmal den Banden von Plünderern, denen die Nationalität ihrer Opfer vollkommen gleichgültig ist.

Neben der russischen Ordnungsmacht gibt es in Grosny auch eine tschetschenische Polizei. Sie patrouilliert in der Stadt, regelt den Verkehr und bewacht einzelne Gebäude. Weil sie mit den Russen zusammenarbeitet, ist sie unmittelbare Zielscheibe der tschetschenischen Rebellen. „In dieser Stadt vertraue ich niemandem außer meiner Mutter, meinem Bruder und mir selbst“, sagt Ramzan. Der junge tschetschenische Polizist stammt aus Grosny. In beiden Kriegen hat er auf der Seite der Russen gekämpft, zwischen den Kriegen lebte er in Russland. Ramzans Sold ist nicht schlecht, aber die Frage, ob er jemals eine Rente erhalten wird für all die Jahre, die er in Uniform verbracht hat, kann ihm niemand beantworten.

Die meisten Soldaten in Tschetschenien sind professionelle Söldner. „Uns interessiert nur“, sagen sie, „wie viel Geld wir am Ende des Monats bekommen.“ Die Bezahlung ändert sich ständig, die Höhe des Soldes ist nicht festgelegt. Man munkelt, es seien an die siebenhundert US-Dollar. Auch die russischen Soldaten misstrauen jedem, vor allem den Tschetschenen, die mit ihnen zusammenarbeiten. Man isst und trinkt zusammen und haust in denselben schlichten Kasernen, das ist alles. Nachts betäuben sie Misstrauen, Angst und Heimweh mit Wodka. „Wir wollen einfach nur lebend durch diese Hölle kommen“, sagt einer der Russen.

In Grosny gibt es acht Krankenhäuser. Das größte von ihnen, das Hospital Nummer 9, liegt unweit des russischen Hauptquartiers. Es verfügt über eine Notaufnahme und eine chirurgische Abteilung, in der Minenopfer, Menschen mit Schussverletzungen und Opfer von Autounfällen versorgt werden. Die medizinische Ausrüstung ist hoffnungslos veraltet. Auch das Gebäude ist in sehr schlechtem Zustand. Das Dach ist eingestürzt, nur die beiden unteren Stockwerke können benutzt werden. An den schmutzig grauen Wänden hängen vergilbte Plakate, auf denen vor den Gefahren von Minen und Handgranaten gewarnt wird. „Unsere Situation ist vergleichbar mit der von Krankenhäusern in Russland“, sagt Chefarzt Ruslan Shavholov, während er in seinem bescheidenen Büro sitzt. „Auch dort wird Ihnen jeder erzählen, dass von allem zu wenig da ist.“

Das Hospital wird je zur Hälfte vom russischen Gesundheitsministerium und von verschiedenen Hilfsorganisationen mit Medikamenten und medizinischer Ausrüstung versorgt. Aber die Hilfe reicht nicht aus. „Wir haben einfach zu wenig Notfallwagen“, sagt Shavholovs Stellvertreter Ismail Abdul, „und zu wenig Fahrer.“ Erst kürzlich wurde ein Fahrer verwundet, während er Verletzte zum Krankenhaus fuhr. Die Arbeit ist gefährlich, und die Bezahlung gering. Selbst ein Arzt verdient in Tschetschenien nur 1.200 bis 2.000 Rubel, vierzig bis siebzig US-Dollar. Das Gehalt wird nur unregelmäßig gezahlt, oft warten die Krankenhausmitarbeiter monatelang auf ihr Gehalt.

Auch Narkosemittel fehlen. „Wir raten denjenigen, die auf eine Operation warten, sich die Mittel auf dem Schwarzmarkt zu besorgen“, sagt Abdul. „Dort kann man alles kaufen – wenn man Geld hat.“

Vielen Patienten kann das Krankenhaus nicht helfen, weil die notwendigen Medikamente nicht vorhanden sind oder weil mitten in einer Operation der Strom wieder einmal ausfällt und zu viel Zeit vergeht, bis die beiden Generatoren des Krankenhauses angesprungen sind. „Nichts hat sich zum Besseren verändert“, sagt Abdul. „Die Einsätze der Russen haben nichts gebracht, worauf man stolz sein könnte. Wir wissen nicht mehr weiter.“

Ein großer Teil der Krankenhausmitarbeiter wohnt in Grosnys Vororten. Sie müssen zu Fuß zur Arbeit gehen, ohne jeden Schutz. Auch im Krankenhaus gibt es keine Sicherheitsvorkehrungen. „Jeder kann hier reinkommen und machen, was er will“, sagt der Arzt. Die Belegschaft hat Militär und Polizei gebeten, das Krankenhaus zu bewachen – ohne Erfolg. Stattdessen wurde ihnen geraten, bewaffnete Sicherheitsleute zu engagieren. Aber dafür fehlen dem Krankenhaus die Mittel. Inzwischen wollen die meisten Ärzte Grosny verlassen.

Am anderen Ende Grosnys liegt das städtische Entbindungsheim, ein flaches Gebäude, das renoviert und im vergangenen September bezogen wurde. Die Dienst habende Ärztin heißt Zarima Lalajeva. Sie wohnt in Tolstoj Jurt, einem Ort nördlich von Grosny. Wenn die Busse nicht fahren, weil die Stadt für Zivilverkehr gesperrt ist, muss Lalajeva zwölf Kilometer zu Fuß zur Arbeit gehen, und das ist häufig der Fall.

Im Entbindungsheim werden täglich zwei bis drei Kinder geboren, mehr Jungen als Mädchen, und fast alle sind krank. „Die meisten Kinder kommen zu früh zur Welt“, sagt die Ärztin Pa kali Abgara. „Viele Frauen haben während der Schwangerschaft Gesundheitsprobleme, sind schlecht ernährt und psychisch ausgelaugt.“ Früher, sagt ihre Kollegin Lalajeva, wollten die Verwandten der Schwangeren wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. „Heute fragen sie, ob das Kind gesund sein wird. Früher brachten sie der Wöchnerin Geschenke – Blumen, Obst, Gebäck. Aber wo sollen sie heute so etwas kaufen?“ Die Menschen in Grosny, sagt die Ärztin, „wollen keine Kinder mehr bekommen.“

Zarima Lalajeva hat all ihre Freunde verloren, sie sind tot oder geflohen. Die Zeit nach dem ersten Krieg war für die Ärztin die schrecklichste Zeit. „Tschetschenische Banditen haben Kinder entführt, um Geld von den Eltern zu erpressen – bis es niemanden mehr gab, der noch Lösegeld hätte bezahlen können.“ Lalajeva hatte gehofft, die Russen könnten die Situation stabilisieren, ein normales Leben könnte wieder möglich werden. Stattdessen kam es wieder zum Krieg. „Von den Russen kommt keine Hilfe, weder von Moskau noch von den Statthaltern hier. Die Hilfsorganisationen tun mehr für uns“, sagt sie. Im Entbindungsheim gibt es täglich drei warme Mahlzeiten. Frühstück und Abendessen werden vom Krankenhausbudget bezahlt, für das Mittagessen kommen die Polen auf, für Babynahrung und Wäsche die Franzosen. „Wir schämen uns, dass wir wie Bettler um Almosen bitten müssen.“

Sonntag, früher Nachmittag. Es ist ein warmer und sonniger Tag. Der Kommandantur wird der Fund einer Leiche am Stadtrand gemeldet. Was nun folgt, ist Routinearbeit. Ein Konvoi aus gepanzerten Fahrzeugen und schwer bewaffneten Soldaten fährt zum Fundort. Spezialeinheiten schirmen das Gelände ab, einige Meter entfernt stehen Anwohner, die Hände vor Mund und Nase gelegt, um sich vor dem starken Verwesungsgeruch zu schützen. Die Leiche liegt in einem Graben, unter Metallteilen und Müll. Sie könnte mit einer Mine verbunden sein. Jeden Tag sterben Menschen durch solche Sprengfallen. Mit einem Drahtseil, das an eines der gepanzerten Fahrzeuge gebunden ist, wird die Leiche langsam aus dem Graben gezogen, alles bleibt ruhig.

Sein Name ist Umar Velhiow, geboren 1957. Er lebte bei seiner Mutter, nicht weit von der Stelle, wo seine Leiche gefunden wurde. Schon seit einigen Tagen war er vermisst worden. Zu Beginn des zweiten russisch-tschetschenischen Krieges war er mit der Mutter nach Inguschetien geflohen, erst vor kurzem kehrten sie zurück. „In diesem Teil der Stadt gibt es viele Kämpfer“, sagt einer der Anwohner leise. Ob er mit „Kämpfer“ die Rebellen meint oder die Banditen, will er nicht sagen. „Vielleicht wollte er ihnen kein Geld geben“, flüstert ein anderer. Die meisten schweigen. Auf dem Boden hocken Kinder, ohne eine Regung zu zeigen.

Am Nachmittag wird die Leiche einer Frau gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Sie wurde auf der Straße erschossen, einer ihrer Begleiter ist verletzt, der Dritte konnte fliehen. Es war ein ruhiger Tag, sagen die Russen.

„Bjerkat“ ist das tschetschenische Wort für „alles ist gut“. So heißt das Waisenhaus von Grosny. Fünfzig Kinder sind hier untergebracht, vier bis sechs Jahre alt, tschetschenische und russische Kinder. Das Waisenhaus wird von der Caritas geführt und beschäftigt elf Mitarbeiter. Es gibt Sicherheitspersonal, das aber nicht bewaffnet ist. „Kinder ohne Eltern sind in Grosny genauso sicher wie Kinder, die Eltern haben“, sagt die Leiterin Tamara Kankajeva. Das Waisenhaus wird von der russischen Regierung unterstützt. Auch die Menschen in Grosny spenden Nahrungsmittel und Kleidung, obwohl sie selbst kaum etwas haben.

Wenn jemand ein altes Bilderbuch bringt oder Süßigkeiten, fangen die Kinder an zu weinen. Es gibt kaum einen Ort auf der Welt, an dem dies vorstellbar wäre. Aber hier, in Grosny, weinen die Kinder vor Freude über ein paar Bonbons.

Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Verena KernBOSTJAN SLATENSEK ist freier Fotojournalist aus Slowenien. Er arbeitet für zahlreiche internationale Zeitungen und Magazine

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