Mit einem Schuss FC Bayern

Volker Finke und der SC Freiburg im elften Jahr: Ist das links? Ruhe jetzt aber mal! Das ist moderner Konzeptfußball mit flachen Hierarchien

aus Freiburg ULRICH FUCHS

Irgendwie merkwürdig. Sechster in der Abschlusstabelle ist der SC Freiburg gewesen, als zweitbeste Rückrundenmannschaft hat er sich die Uefa-Cup-Teilnahme gesichert, dabei die zweiterfolgreichste Saison seiner Geschichte gespielt – und was ist los in Freiburg vor dem Start ins neue Spieljahr? Es herrscht Katerstimmung.

„Nicht zu toppen“, brummt Präsident Achim Stocker, sei die Leistung der vergangenen Saison. „Das Ende der Fahnenstange ist erreicht“, orakelt Manager Andreas Rettig düster. Und Trainer Volker Finke sitzt im „Sportstudio“ und sagt gar nichts mehr. Nichts mehr von Belang jedenfalls. Nichts, womit er anecken könnte. Und nichts, was die Sehnsüchte nach einer Sinnstiftung des Spiels jenseits der Seitenlinie bedient.

Hatte der Hoffmann-und-Campe-Verleger Rainer Moritz also Recht, als er schon vor geraumer Zeit bilanzierte, der SC Freiburg sei „die größte Projektionsfläche der deutschen Kulturszene in den letzten 10 Jahren – mehr nicht?“ Anders gefragt: Was wäre mehr? Ein Fußball, der nicht „zum kapitalistischen Produkt herabgewürdigt wurde, das man kaufen und verkaufen kann“ (Cesar Luis Menotti)? Der „uns wie andere Ausdrucksformen der Kunst vorbereitet auf ein besseres, ein gerechtes, ein menschliches Leben“ (dito)?

Oder zumindest einer, der taugt als „Gegenmodell zum Establishment des deutschen Profifußballs“? Das zu sein, hatte immerhin die Süddeutsche Zeitung dem südbadischen Provinzklub attestiert, als der sich 1993 anschickte, unter Leitung des Fußballlehrers Volker Finke in die Bundesliga aufzusteigen, und der Spiegel Freiburg als Ort auf der Fußball-Landkarte ausrief, „wo das Anderssein zum Pogramm gehört“.

War das so? Ist das so? Wird er auch heute Nachmittag noch jemanden streifen, jener „Windhauch der Utopie“, den die mittlerweile eingestellte Kulturzeitschrift Heaven Sent seinerzeit im Dreisamstadion noch verspürt hatte?

Hoffentlich nicht. Nicht allein, dass man die mythischen Verklärungen über ist, sie haben auch immer eines untermauert: dass man den SC Freiburg und seinen Trainer nicht wirklich ernst genommen hat. Finke und der SC, „die Gemeinsamkeit zwischen dem Geiste und den gemeinen Spielen des Volkes“ (Frankfurter Rundschau), waren zunächst nicht anderes als der Fußballklub gewordene Weltschmerz eines notorisch grassierenden Kulturpessimismus. Was viel damit zu tun hatte, dass alles zu einer Zeit begann, als die Restauration der Ära Kohl aus dem Fall der Mauer und dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 die zweite Luft gewonnen hatte, während sich die Linke mit dem Zusammenbruch der so genannten realsozialistischen Systeme im Abseits einer umfassenden Selbstverständigungskrise wiederfand.

Da kam einer wie Finke gerade recht. Einer, der – so diffus das letzlich auch immer blieb – selbst ein Linker war. Einer, der die Auswüchse der kommerziellen Ausschlachtung des Spiels genauso kritisierte wie die restaurativen Verbandsstrukturen. Einer, der es sich öffentlich verbat, dass die Fans den SC mit „Sieg“-Stakkatos anfeuerten. Einer, der attraktiven Fußball einüben ließ, statt das Spiel unter der alleinigen Maßgabe der Effektivität zu organisieren. Einer also, der für die Vergeblichkeit des Wahren und Schönen stand.

„Die Utopie stirbt stückchenweise – mit jeder Niederlage des SC Freiburg“, hauchte selbst die behäbige Stuttgarter Zeitung gerührt, als am Ende der ersten Bundesligasaison der Südbadener der schnelle Wiederabstieg drohte. Prosaischer hatte Dieter Hoeneß als Manager des VfB Stuttgart die damalige Stimmung aus der Binnensicht der Branche beschrieben: „Wenn die nicht absteigen, haben wir 30 Jahre lang alles gemacht.“ Hoeneß hatte mehr Recht, als ihm lieb sein konnte. Womit eine ganz andere Geschichte von Volker Finke und dem SC Freiburg beginnt. Sie hat vor allem mit Fußball zu tun.

„Konzeptfußball“ würde Finke vielleicht sagen, wenn er es sich nicht längst abgewöhnt hätte, in der Öffentlichkeit noch irgendwas inhaltlich Relevantes zu sagen. (Was man als Anpassung an die Regularien der Branche interpretieren kann. Finke selbst interpretiert es als „Gewinn an Lebensqualität“ nach dem Motto: Um vernünftige Arbeit machen zu können, will ich am freien Montag in den Vogesen wandern oder am Kaiserstuhl radeln und nicht 25 Journalistenanrufe beantworten, weil ich am Sonntag das Wort zum Stand der Fußballdinge gesprochen habe.)

Zum „Konzeptfußball“ beispielsweise, dessen Gegenstück Finke einmal „Heroenfußball“ genannt hat. Gemeint war damit ein Stil, der den deutschen Fußball bis weit in die 90er-Jahre dominiert hat. Als einzelne Protagonisten die Organisation des Spiels vorgaben und nicht eine gemeinsame Idee das Handlungsmuster für alle bildete. Die Freiburger Konzeptidee ist, dass man überall dort, wo der Ball gerade ist, einen Mann mehr in seiner Nähe haben will als der Gegner. Was man an unzähligen taktischen Details illustrieren könnte.

Aber das Schöne war ja: Die ganze Theorie hat es gar nicht gebraucht, um zu sehen: Was da praktiziert wurde, hatte mit deutschem Fußball wenig zu tun. Weil es mit dem Prinzip brach, dass jeder einen festen Gegenspieler hatte, mit dem das Spiel sich im Kern auf einen Kampf Mann gegen Mann reduzierte. Weil die hierarchische Arbeitsteilung in kreative und destruktive Tätigkeiten auf dem Platz aufgehoben wurde und Verteidiger ins Offensivspiel und Angreifer in die Defensivarbeit mit einbezogen waren. Weil das die hohe Verantwortlichkeit jedes Einzelnen fürs Ganze erforderte und damit flache Hierarchien. Und weil alles zusammen seinen Ausdruck fand in einem Spiel, das vereinte, was in Deutschland lange als unvereinbar galt: Ästhetik und Effizienz.

Natürlich waren Finkes Ideen nicht vom Fußballhimmel Taktiktafel gefallen. Sie nahmen Entwicklungen auf, die im europäischen Fußball längst gegriffen hatten. Und ein AC Milan, der unter Arrigo Sacchi Ende der Achtziger die italienische Catenaccio-Bastion schleifte, oder ein Ajax Amsterdam, das unter Louis van Gaal mit einem wahlverwandten Konzeptfußballmodell auf europäische Höhen stürmte, bildeten dabei nur die Zentren einer breiten Bewegung des fußballkulturellen Fortschritts. In Deutschland sickerte die Erneuerung lange nur von den Rändern ein: Mit Finke und dem SC Freiburg, mit Klaus Toppmöller und dem VfL Bochum, mit Ewald Lienen und Hansa Rostock.

Auf die Zentren des Spiels sprang sie erst über, als die deutsche Nationalmannschaft international immer deutlicher ins Hintertreffen geriet und das Bewusstsein griff: So wenig, wie Fleiß, Willen und Ordnung – die Zentraltugenden des deutschen Wiederaufbaus – reichten, um den angeschlagenen Wirtschaftsstandort Deutschland zu sanieren, so wenig war mit ihnen allein auch die Krise des Fußballstandorts Deutschland zu bewältigen.

Immerhin, vor ein paar Monaten lieferte das Kursbuch des deutschen Fußballs nun den Beweis, dass der Bewusstseinswandel auf breiter Basis eingeleitet ist: In einer Kicker-Umfrage hatte die Leserschaft des Fachblatts Volker Finke (24,1 Prozent) beim Ranking der besten Bundesligatrainer hinter Ottmar Hitzfeld (24,8) auf Platz 2 gesetzt – und auf Platz 4 folgte mit Ewald Lienen (8,6) ein weiterer Protagonist des Reformflügels. Neben dem Cheftrainer belegte auch Freiburgs Manager Andreas Rettig hinter Uli Hoeneß (Bayern) und Reiner Calmund (Leverkusen) einen Champions-League-Platz.

Oder ist das schon wieder verdächtig? Weil es die Freiburger Anpassung an eine Branche spiegelt, die im letzten Jahrzehnt den Prozess ihrer Kommerzialisierung mit Macht vorangetrieben hat? Tatsächlich steht Finke ja nicht nur für den Freiburger Kombinationsfußball, sondern hat die gewaltigen Investitionen in die Infrastruktur mit befördert und mitbestimmt. Ob Merchandising oder Rasenheizung, ob Tribünenausbau oder Nachwuchsleistungszentrum – nichts, wo der Cheftrainer seiner Finger nicht mit im Spiel hat. Hinter vorgehaltener Hand wird ihm deshalb schon mal sein ausgeprägter Machtinstinkt mit gelegentlichem Hang zum Despotismus vorgeworfen. Aber ohne das würde der SC Freiburg auch nicht da stehen, wo er mittlerweile steht.

Wo das ist? „Wir haben eine ordentliche Entwicklung gemacht, ohne uns von unseren Wurzeln abzuschneiden“, sagt Andreas Rettig. Der Manager ist vor drei Jahren auf Drängen von Finke von Leverkusen nach Freiburg gelotst worden. Und so kokett er die Öffentlichkeit noch immer mit dem alten Lied vom „kleinen SC Freiburg“ penetriert, so unnachgiebig treibt er hinter den Kulissen die Professionalisierung voran. Statt mit sympathischem Dilettantismus wird das Produkt Bundesliga-Fußball nun mit straffen Dienstleistungskonzepten feilgeboten. Der Etat des Unternehmens hat sich in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt, locker wird man im kommenden Jahr die 50-Millionen-Mark-Hürde nehmen.

Für Sentimentalitäten sind die Räume damit enger geworden. Aber für die war Finke sowieso nie zu haben. „Es ist blauäugig, zu glauben, dass man auf Dauer gegen den Strom schwimmen kann“, hat er schon vor dem ersten Bundesliga-Aufstieg gesagt, „aber vielleicht können wir ja hier eine kleine Nische schaffen – es muss doch verdammt noch mal möglich sein, dass wir Sponsoren finden, die gerade das andere hier gut finden.“

Zu Finkes zehnjährigem Dienstjubiläum in Freiburg hat sich im Frühsommer der Kreis geschlossen. Der Sport-Club präsentierte die „Naturenergie AG“ aus Grenzach-Wyhlen als neuen Hauptsponsor. „Steigen Sie aus dem Atomstrom aus“, lädt der Ökostrom-Erzeuger in seinem Prospekt ein. Was vor Jahren als politische Parole der Alternativbewegung formuliert wurde, wird nun zur Bewerbung eines zukunftsträchtigen Produkts eingesetzt. Der Markenartikel Freiburger Fußball hat in der Ära Volker Finke eine durchaus vergleichbare Entwicklung gemacht.

Warum dann aber die vorsaisonale Besinnlichkeit in der Vereinsspitze? Alles nur branchenübliches Understatement? „Damit die Drachen nicht zu hoch steigen“, wie Finke gerne warnt? Nicht ganz. Rettig hat Recht, wenn er den Verein an Grenzen stoßen sieht. Gerade weil das Geschäft floriert, werden spätestens bei sportlichen Krisen und nicht nur da die Forderungen nach teuren Transfers lauter werden. Schon jetzt fordert der Manager aus der Leverkusener Schule „einen Schuss Bayern-Mentalität“.

Man sieht: Volker Finke ist auch im elften Freiburger Jahr gefordert. Wie immer gilt es, die Balance zu halten. Zwischen Konkurrenzfähigkeit auf der einen Seite und ordentlichem Fußball auf der anderen. Wie solche Drahtseilakte gelingen, kann er künftig auch mit den Managern des neuen Sponsors beraten. „Naturenergie“ ist nämlich eine Tochter der Schweizer „Watt AG“ – und die ist mit dem Verkauf von Atomstrom reich geworden.

ULRICH FUCHS (43) ist Chefredakteur der Freiburger Zeitung zum Sonntag. Er verfolgt Finke und den SC Freiburg seit den Anfängen.