Mexiko hat Probleme mit der Wahrheit

Nach Jahrzehnten der Parteidiktatur fordern Menschenrechtler die Aufklärung von Verbrechen der Vergangenheit. Trotz gegenteiliger Versprechungen sperrt sich die Regierung gegen die Einrichtung einer Wahrheitskommission

MEXIKO-STADT taz ■ Die Wende sollte die „Wahrheit“ bringen. Das jedenfalls hatte Präsident Vicente Fox den MexikanerInnen bei seinem Antritt im Dezember 2000 versprochen. Repression und Korruption aus sieben Jahrzehnten Parteiendiktatur sollten „schonungslos“ aufgedeckt werden. Heute, gerade acht Monate später, warnen Fox-Vertraute vor einer vermeintlichen „Hexenjagd“ und plädieren dafür, statt einer Wahrheitskomission doch lieber „Zukunftsgestaltung“ zu betreiben. Nach der verunglückten Indio-Reform und einem vom Kongress blockierten Steuerpaket droht eine mögliche Verdrängung der Vergangenheit nun zum dritten Stolperstein der ersten demokratisch gewählten Regierung zu werden.

Denn auch Mexiko hat seine Leichen im Keller. Während das Regime bei politisch Verfolgten aus Ländern wie Chile und Argentinien zu Recht einen Ruf als Zufluchtsort genoss, führte es seine eigenen schmutzigen Kriege. Viele hundert oppositionelle Aktivisten sollen in den Siebzigerjahren von Polizei und Militär verschleppt worden sein. Wie viele bei Massakern an demonstrierenden StudentInnen im Oktober 1968 und im Juni 1971 ermordet wurden, ist bis heute nicht öffentlich bekannt.

An Namen aber mangelt es nicht. So liegt der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) eine Liste von 482 Verschollenen aus den Siebzigerjahren vor, zudem 200 weitere Namen von Menschen – zumeist Bauernaktivisten aus dem südlichen Bundesstaat Guerrero –, die noch in den Achtziger- und Neunzigerjahren „verschwunden“ sind. Dass die Verschleppung von Oppositionellen beileibe nicht der Vergangenheit angehört, zeigt ein Bericht des Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas. Danach sollen paramilitärische Banden im Norden von Chiapas seit 1995 mindestens 26 Menschen verschleppt haben.

Zwar wäre nun vor allem die CNDH für die Aufklärung der Fälle zuständig, doch steht die Kommission seit neuestem selbst im Verdacht, zur Vertuschung beigetragen zu haben. Nach Recherchen des Sicherheits- und Menschenrechtsexperten Sergio Aguayo hatten die staatlichen Menschenrechtler den betroffenen Familien gezielt Informationen vorenthalten. Zwar wurde das Personal der Kommission „komplett“ ausgewechselt, versichert Raúl Plascencia, der neue Beauftragte für Verschwundene. Das Misstrauen aber bleibt bestehen.

„Wir haben der CNDH noch nie getraut“, sagt Rosario Ibarra, Vorsitzende des Verschwundenenkomitees Eureka. So will das Komitee demnächst selbst eine Liste von 502 Verschleppten vorlegen. Die Forderungen Ibarras sind konkret: die Öffnung der Armee- und Geheimdienstarchive und der so genannten Geheimgefängnisse, die nach Aussage von Eureka noch immer auf Militäranlagen betrieben würden.

In den Archiven des mexikanischen Geheimdienstes Cisen lagern mindestens 50 Millionen Karteikarten, auf denen insgesamt zwei bis drei Millionen MexikanerInnen erfasst sind. Nach Wunsch des Beraters für nationale Sicherheit, Adolfo Aguilar Zinser, sollen diese der Öffentlichkeit „so bald wie möglich“ zugänglich werden.

Der Funktionär, der als einer der dezidiertesten Kritiker der traditionellen Sicherheitsdoktrin gilt, will den Geheimdienst gänzlich umkrempeln. Der solle „nie wieder gegen Feinde der Regierung“, sondern nur noch gegen organisiertes Verbrechen und Drogenmafia eingesetzt werden. Doch vor wenigen Wochen wurde das Cisen mit Abhör-Equipment für umgerechnet 30 Millionen Mark aufgerüstet.

Zusammen mit anderen Menschenrechtlern und der linkssozialdemokratischen Partei der Demokratischen Revolution (PRD) fordert Sergio Aguayo nun auch in Mexiko die Einsetzung einer regierungsunabhängigen „Wahrheitskommission“. Diese solle einen „minuziösen Bericht“ über das Funktionieren der Machtmaschine erarbeiten und die Justizbehörden mit Material beliefern. Innenminister Santiago Creel hält eine solche Kommission hingegen schlicht für überflüssig. Zwar will auch der als integer geltende Jurist mit der Straflosigkeit für uniformierte Verbrecher aufräumen.

Das könne aber ebenso gut über bestehende Instanzen geschehen. Nicht wenige Vertreter der rechtsliberalen Regierungspartei Pan halten den Kampf gegen Korruption gar für wesentlicher als „längst verjährte“ Menschenrechtsfragen. „In der Vergangenheit zu wühlen, heißt nur, den Transitionsprozess durcheinander zu bringen“, sagt der Pan-Vorsitzende, Luis Felipe Bravo Mena. ANNE HUFFSCHMID