Warten auf den großen Knall

Algerien ist sich einig: Präsident Bouteflika steht vor dem Aus. Die Jugendrevolte destabilisiert seine Regierung, und bewaffnete Islamisten werden wieder stärker

MADRID taz ■ „Algerien ist wie das Sowjetsystem, nur umgekehrt“, beschreibt Hocine Ait Ahmed das Regime seines Landes. Der letzte lebende Führer des algerischen Unabhängigkeitskriegs, heute Chef der sozialistischen Partei FFS, wirft seinen Machthabern „Bunkermentalität“ vor. Er meint nicht nur Staatschef Abdelasis Bouteflika, der den seit zehn Wochen anhaltenden Jugendaufstand aussitzt, sondern auch die Armee. „In der UdSSR kontrollierte die KP die Armee und die Geheimdienste. In meinem Land kontrolliert eine Gruppe von 10, 12 Generälen die offiziellen Parteien, angefangen bei der ehemaligen Einheitspartei FLN bis hin zu den Salon-Islamisten. Diese Gruppe ernennt den Präsidenten, zwingt ihn zum Rücktritt oder ermordet ihn. Außerdem bestimmen sie, wie die Erdöleinnahmen verteilt werden.“

Algeriens Politiker, Journalisten und Professoren melden sich dieser Tage verstärkt zu Wort. Die Jugendunruhen, die am 18. April ausbrachen, lassen Ströme von Tinte fließen. Der Untersuchungsbericht vom Wochenende, der das brutale Vorgehen der Polizei kritisiert, heizt dabei die Debatte weiter an.

„Was heute passiert, ist kein vorübergehendes Phänomen. Dahinter stehen grundsätzliche Forderungen. Denn die Mächtigen haben weder den Willen noch die Möglichkeit, Algerien zur Demokratie zu führen“, ist sich Psychologieprofessor Mohamed Lalou sicher. 1994 verließ er die Universität von Algier. Heute lehrt er in Lyon.

„Alle Algerier identifizieren sich mit diesem Aufschrei“, meint die Publizistin Salima Ghezali. Auch sie lebt in Frankreich, seit ihre Zeitung La Nation 1996 geschlossen wurde. „Zehn Jahre Terror und Not haben den Blick freigegeben auf das brutale und räuberische Wesen des Regimes“, erklärt sie. „Egal welche Manöver das Regime jetzt vollführt, die Zeit für die Mächtigen läuft ab.“

Nach fast 30 Jahren Einparteiensystem, gefolgt von einer zaghaften Öffnung, die dann in die blutige Krise der 90er-Jahre mündete, sehen viele in der Jugendrevolte die Chance für einen „algerischen Frühling“. Tassadit Yacine, Sozialwissenschaftler und Herausgeber der Kulturzeitschrift Awal, sagt: „Die Unruhen haben den Charakter des Regimes enthüllt, das sich einer offenen Rebellion gegenübersieht, die von der gleichen Frustration getragen wird wie die Intifada in Palästina. Die Krise, die von der Kabylei ausgeht, zeigt die Unzufriedenheit, die im ganzen Land herrscht. Sollte sie sich ausweiten, führt dies zwangsläufig zum Ende dieses hölzernen Regimes.“

Nach dem Konflikt mit den bewaffneten Islamisten, der in den letzten zehn Jahren 150.000 Menschen das Leben kostete, scheint Algerien an den Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein. Viele Jugendliche sehen nur noch in der Gewalt einen Weg um ihre Situation zu ändern – so wie ihre islamistischen Altersgenossen vor zehn Jahren. Kurzfristig scheinen es nun die Islamisten zu sein, die von der Lage profitieren. Das entspricht nicht unbedingt den Wünschen der neuen Protestgeneration.

Seit dem Nationalfeiertag am 5. Juli sind in Algerien nach Presseberichten weit über 100 Menschen bei Überfällen bewaffneter islamistischer Gruppen ums Leben. Die meisten Attentate fanden in der Berberregion Kabylei und im Westen des Landes, rund um die Stadt Chlef, statt.

In der Kabylei haben die Anhänger des radikalen islamischen Predigers Hassan Hattab leichtes Spiel. Die Polizei und Gendamerie haben vielerorts die Straßenkontrollen abgezogen und konzentrieren sich ganz auf die Niederschlagung der Jugendrevolte. Vor allem in entlegenen ländliche Gegenden ist die Bevölkerung Hattabs Truppen hilflos ausgesetzt. Das „Komitee der Gemeinden und Stämme“, das die Jugendproteste in der Berberregion koordiniert, ruft die Bevölkerung jetzt dazu auf, gegen die Islamisten Selbstverteidigungsgruppen einzurichten, um „die Sicherheit zu garantieren“. REINER WANDLER