Die ordentlichste Straße der Stadt

Nordbelfast ist wieder Kampfzone. Wellblechzäune trennen protestantische und katholische Viertel. Wer noch hier wohnen muss, hat keine Alternative

aus Belfast RALF SOTSCHECK

Plötzlich fallen sechs Schüsse aus einem Schnellfeuergewehr. Niemand weiß, wo sie herkommen. Für einen Moment herrscht Stille, dann geht die Straßenschlacht unvermindert weiter. Eine Gruppe protestantischer Jugendlicher ist in der Dunkelheit aus der Hallow’s Road in Nordbelfast gekommen und greift die Häuser im benachbarten katholischen Viertel an der Limestone Road mit Steinen, Farbbeuteln und Rohrbomben an. Die Molotow Cocktails werfen sie gezielt auf die Heizöltanks in den Hintergärten. Die Bewohner wehren sich, so gut sie können, und werfen Steine und Flaschen zurück.

Die Reihenhäusern an der Ecke, wo das protestantische Viertel Tiger’s Bay an das katholische Newington grenzt, stehen leer, ihre Fenster und Türen sind zugemauert. Auf den Dächern sitzen ein paar Jugendliche und schießen Stahlkugel mit einem Katapult auf die gegenüberliegenden Häuser. Eins davon ist gerade verkauft worden, der neue Eigentümer soll ein Mann aus Dublin sein. „Die Vorbesitzer müssen ihn unter Drogen gesetzt und ihm weisgemacht haben, das sei eine gute Wohngegend“, mutmaßt Fergus Moore. Er ist Anfang 40 und lebt seit 30 Jahren in Newington. „So schlimm wie jetzt war es hier noch nie“, sagt er. „Sie greifen uns fast jede Nacht an, und das seit Monaten. Und die Polizei sieht zu.“ Zwei Polizeijeeps stehen weiter weg in der Limestone Road, in sicherer Entfernung. Erst lange nach Mitternacht ist die Schlacht vorbei.

Seit dem Ausbruch des nordirischen Konflikts Ende der Sechzigerjahre ist ein Fünftel aller politischen Morde in Nordbelfast begangen worden, der bisher letzte erst vorgestern. Ein Teenager, der vor dem Clubhaus eines gälischen Sportvereins stand, ist aus einem vorbeifahrenden Auto heraus erschossen worden. Die Täter gehörten vermutlich der protestantischen Ulster Defence Association (UDA) an. Der ermordete 19-Jährige war ebenfalls Protestant.

Seit 31 Jahren „Friedenslinien“

Hier in Nordbelfast sind katholische und protestantische Viertel, ja sogar einzelne Straßen, eng miteinander verzahnt, getrennt durch hohe Mauern und Wellblechzäune – die „Friedenslinien“. Sie stehen länger, als die Berliner Mauer gestanden hat, 31 Jahre sind es inzwischen. Es gibt 20 Stück davon in Belfast, manche aus Wellblech oder Stein, andere aus Maschendraht. Eine Mauer in Nordbelfast verläuft mitten durch den Alexandrapark, den sie in eine katholische und eine protestantische Hälfte teilt. Ihr Grundstein wurde am 1. September 1994 gelegt, dem Tag, an dem der Waffenstillstand der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) begann.

Eine andere Trennungslinie verläuft entlang Duncairn Gardens am südlichen Ende von Tiger’s Bay. Auf der rechten Seite sind die Türen und Fenster der meisten Reihenhäuser aus rotem Backstein zugemauert. Wer hier noch wohnt, hat keine Alternative. Die anderen sind längst vor den gewaltsamen Auseinandersetzungen geflüchtet, die immer wieder an den Brennpunkten aufflammen. Direkt hinter den Häusern steht ein hoher Wellblechzaun, der die Grenze zum katholischen New-Lodge-Viertel bildet. In den Zaun sind kleine Türen eingelassen, die zwar offen stehen, doch so gut wie nie benutzt werden.

Am Nachmittag haben sie im Gemeindezentrum von New Lodge eine Kinderparty gefeiert. Das Ashton-Zentrum, ein hässlicher Flachbau, hat eine neue Eingangstür bekommen. Eine Woche zuvor hatten zwei protestantisch-loyalistische Attentäter das Gebäude unter Feuer genommen, die alte Holztür war von Kugeln durchsiebt worden. Die Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren versteckten sich in einem Schrank, niemand wurde verletzt. „Die Kinder sollen wieder zur Normalität zurückfinden“, sagt Jim Deery von der Bürgervereinigung. „Einige hatten Angst, wieder ins Gemeindezentrum zurückzukommen. Die Party soll ihnen helfen, diese Angst zu überwinden.“

Lauter „legitime Angriffsziele“

Die „Red Hand Defenders“, ein Tarnname für die UDA, haben sich zu der Tat bekannt. Sie kündigten an, dass sie ihre Kampagne eskalieren werden. „Wir halten alle Nationalisten für feindselig, und deshalb sind sie legitime Angriffsziele“, hieß es in der Presseerklärung. Nationalisten sind diejenigen, die ein vereintes Irland wollen – also praktisch alle Katholiken. Die UDA und die zweite bewaffnete protestantische Organisation, die Ulster Volunteer Force (UVF), haben vor zwei Wochen ihre Unterstützung für das Belfaster Abkommen vom Karfreitag 1998 aufgekündigt.

Aber es sind nicht nur die bewaffneten Protestanten, die das Friedensabkommen ablehnen, sondern auch weite Teile der Ulster Unionist Party (UUP) des Friedensnobelpreisträgers David Trimble. Zwei hochrangige Parteikollegen, Jeffrey Donaldson und David Burnside, haben vorige Woche das Belfaster Abkommen für gescheitert erklärt und verlangt, dass sich ihre Partei aus der Mehrparteienregierung zurückzieht und das Abkommen neu verhandelt. Es seien darin zu viele Zugeständnisse an die IRA enthalten, meinen sie. (siehe Kasten)

Der Waffenstillstand, wenn davon noch die Rede sein kann, hat Belfast zum Aufschwung verholfen. In der Innenstadt stehen die jungen Leute am Wochenende vor den Kinos und Diskotheken Schlange, in den vornehmen Restaurants muss man Tische reservieren lassen, am Hafen ist eine moderne Mehrzweckhalle gebaut worden, und internationale Rockbands machen nicht mehr länger einen Bogen um die Stadt.

Knapp einen Kilometer nördlich der Innenstadt ist die Gegend trostlos. Die kleinen Läden haben nach Geschäftsschluss die Wellblechgitter heruntergezogen, nur der Buchmacher in Turf Lodge hat noch geöffnet. Sein Laden ist ein grüner Blechverschlag, er sieht aus wie eine öffentliche Toilette. Dahinter erheben sich die sieben Wohntürme von Turf Lodge. Sie sind nach prominenten IRA-Mitgliedern benannt, ihre Namen stehen groß am Dachfirst. Wenige Meter weiter, hinter Duncairn Gardens, sind die Bürgersteige von Tiger’s Bay in den britischen Farben rot-weiß-blau angestrichen, die Häuserwände mit den Wappen von UDA und UVF bemalt. An der Ecke stehen britische Soldaten. Sie schwitzen in ihren kugelsicheren Westen, es ist der bisher wärmste Tag des Jahres. Man sieht sie seltener auf den Straßen Nordirlands, seit die IRA-Waffen ruhen, doch heute sollen sie eine Parade des protestantischen Oranierordens sichern. Es ist das erste Mal, dass die Parade in Tiger’s Bay stattfindet.

Die Oranier, ein extrem antikatholischer Bund, dem sämtliche führenden Unionisten angehören, haben in Tiger’s Bay neulich eine Zweigstelle der „Apprentice Boys“ gegründet. Die „Apprentice Boys“, Lehrjungen, haben vor mehr als 300 Jahren die Tore von Derry geöffnet, um die Stadt dem protestantischen König Wilhelm von Oranien auszuliefern.

Die „Lehrjungen“ von Tiger’s Bay sind alte Männer in schwarzen Anzügen und orangenen Schärpen. Vor ihnen läuft eine Kapelle, und hinter ihnen noch eine. Der dumpfe Klang der Lambegtrommeln, der bis weit nach New Lodge und Newington zu hören ist, erweckt den Eindruck, dass es weit mehr als nur 50, 60 Männer sind, die hier marschieren. Eigentlich wollten sie Duncairn Gardens entlanglaufen, aber das hat die für Paraden zuständige Kommission verboten, weil es für die Bewohner von New Lodge eine Provokation wäre. So laufen sie durch die schmalen Gassen, bis sie auf die Limestone Road stoßen.

Der „Gaza-Streifen von Belfast“

Weiter oben haben sich die katholischen Bewohner von Newington versammelt. Die Spuren von der nächtlichen Schlacht sind noch zu sehen, überall liegen Steine und Glasscherben, die Straße ist mit Farbresten übersät. Am Giebel des Eckhauses an der Newington Street hängt eine Plakette: „Der Stadtrat hat Newington Street zur ordentlichsten Straße Belfasts ernannt.“ Das war 1979, heute wirkt das Schild wie Hohn.

Fergus Moore ist gerade aufgestanden, er hat nach der Schlacht noch bis zum Morgengrauen Wache geschoben. „Das ist der Gaza-Streifen von Belfast, wir sind von Protestanten umzingelt. Aber in 20 Jahren“, sagt er und zeigt in Richtung Tiger’s Bay, „leben wir dort drüben. Da sind hunderte von Häusern leer, dabei stehen mehr als 1.500 Familien auf der Warteliste für Häuser in Nordbelfast.“ Doch die meisten sind eben Katholiken, und die können nicht nach Tiger’s Bay. „Selbst Fünfjährige sind nicht vor ihnen sicher“, sagt Moore. Er hat fünf Kinder, sein jüngster Sohn ist am Morgen von Leuten aus Tiger’s Bay als „Katholikenschwein“ beschimpft worden. Gegen die Oranierparade habe er gar nichts, sagt Moore. „Solange sie in ihrem eigenen Viertel bleiben“, fügt er hinzu. „Aber nach der Parade feiern sie ein Fest, und wenn sie abends betrunken sind, werden sie wieder herkommen und unsere Häuser angreifen.“