Inner City Blues

Sie blickt in Gerümpel, kramt in Papieren, eine Tür fällt ins Schloss, sie flüchtet, kommt zur Ruhe, und die Geschichte beginnt von vorne: Im Hamburger Bahnhof in Berlin zeigt der kanadische Künstler Stan Douglas in seinem Film „Le Détroit“ ethnische Identität als Gefängnis in den Wüsten von Detroit

Die Wiedergängerin führt zurück auf die Spur einer verloren geglaubten Geschichte

von HARALD FRICKE

Von Zeit zu Zeit wird es unheimlich. Da ist zum Beispiel der Moment, in dem die schwarze Schauspielerin Leslie McCurdy als Eleanore in Stan Douglas’ Film „Le Détroit“ durch ein Loch in der Wand ins nächste Zimmer schlüpft und man dort mit ihr auf bergeweise Gerümpel blickt. Doch keiner der Gegenstände ist im schnellen Kameraschwenk durch das Halbdunkel identifizierbar. Immer wieder leuchtet sie mit ihrer Taschenlampe in solche Räume hinein, und immer wieder gibt es keinen Anhaltspunkt für das, was sich ihr zeigt. Das Interieur ist für den Zuschauer nur schemenhaft zu sehen, es bleibt, schwarzweiß gefilmt, an der Schwelle zum Gegenstand: nicht ganz Objekt und daher fremd.

Die Filminstallation des kanadischen Künstlers, die der Berliner NGBK im Hamburger Bahnhof organisiert hat, lebt von der Unbestimmtheit der Bilder. Kaum sichtbar, verschwinden die kurzen Einstellungen schon wieder im Dunkel des Projektionsraumes. Dabei geht es Douglas auch um eine szenische Umsetzung seiner Lektüre Sigmund Freuds. Viel ist in dessen Schrift über „Das Unheimliche“ von Doppelgängern, von Schleifen der Erinnerung die Rede – und vom Schrecken, den das Wiedererkennen einer Situation auslöst, die man meint, schon einmal durchlebt zu haben. Freud selbst empfand es als besonders schlimm, eine Straße entlangzuirren, in der sich Prostituierte aufhielten. Die Angst vor diesem fremden Ort zwang ihn förmlich dazu, die Straße drei Mal aufzusuchen – nur um das peinliche Erlebnis stets gleich wieder zu verdrängen.

Unheimlich ist daran auch die Nähe zum Alltag, in der sich das vermeintlich Fremde für Freud zeigt. In einer ähnlich unangenehmen Situation befindet sich der Zuschauer nun bei Douglas: Er beobachtet eine schwarze Frau, die in ein leer stehendes Haus eindringt – fast ein Klischee von Broken Windows und heruntergekommenen Communitys. Ist man wirklich Zeuge eines Diebstahls geworden? Oder hat man sich das Verbrechen vorauseilend eingebildet?

Glaubt man Douglas, dann spielte bei seinem Drehbuch für „Le Détroit“ eine Verstörung im Privaten die entscheidende Rolle. Als siebenjähriger Junge war der 1960 geborene Afrokanadier mit seinem Vater von Milwaukee nach Montreal unterwegs, um die Expo zu besuchen. Auf der Fahrt im Sommer 1967 gerieten sie mitten in die Rassenunruhen von Detroit, bei denen vierzig Demonstranten starben und über 7.000 Menschen verhaftet wurden. Der Vater bekam Angst und warf eine Decke über den Knaben auf dem Rücksitz. Wenig später wurde er von einer Polizeistreife angehalten, die vermutete, dass Douglas senior das Auto gestohlen haben müsse – kein Schwarzer könne sich sonst einen solchen Mittelklassewagen leisten.

1999 wurde Stan Douglas dann zu einem Stipendium nach Detroit eingeladen. Prompt hat er sich an die Aufarbeitung dessen gemacht, was aus früheren Zeiten in seinem Kopf herumspukte. Das Ergebnis ist ein sechsminütiger Filmloop, der eine vage Einbrechergeschichte erzählt, die in der Wiederholung allerdings ungemein an Bedrohung zunimmt. Das Unheimliche kommt auch mit der Technik: Douglas benutzt zwei Projektoren, sodass die Leinwand von beiden Seiten angestrahlt wird. Dabei wird eine Fassung als gespiegelte Negativkopie gezeigt und um vier Einzelbilder verzögert vorgeführt. So entsteht auf der Leinwand ein reliefartiger Effekt, manchmal heben sich die Bilder aber auch gegenseitig auf. Dann wird die Frau im Film vollends zu einem grauflächigen Alien im Dunkel – eine Art „Predator“ mitten in Detroit.

All das sind sehr beeindruckende Bilder, kurz vor der Auflösung durch die gedoppelte Apparatur. Die Story dagegen verläuft eher simpel. Zunächst sieht man Eleanore nachts in ein heruntergekommenes Wohnhaus einsteigen. Sie schnüffelt in jedem Stockwerk, macht sich an einem Kleiderschrank zu schaffen, kramt in Papieren auf dem Boden herum und findet schließlich ein geheimnisvolles Loch in der Wand. Noch hofft man darauf, dass sie ihre Entdeckung mit der Taschenlampe untersucht. Doch in diesem Augenblick hört man eine Tür, die ins Schloss fällt, und fluchtartig verlässt sie das Gebäude. Dabei gleitet sie noch einmal an dem Schrank und am Schreibtisch vorbei. Erst im Auto kommt sie zur Ruhe, als der Motor bereits läuft. Mit diesem Bild beginnt die Geschichte von vorne.

Die Details werden enorm wichtig, wenn man den Film ein zweites Mal sieht. Plötzlich fügen sich die Bewegungsabläufe in die Handlung, die doch eigentlich nur eins zu eins wiederholt, also identisch reproduziert wird. Der Film ist eine Schleife, die sich wie ein Perpetuum mobile von selbst anzutreiben scheint: Das Blatt Papier, der geschlossene Schrank, alles wird in der Wiederholung handlungsbestimmend und damit bedeutsam – Eleanore wird vor den Augen des Betrachters zur Figur, die in ihrem eigenen Loop gefangen ist. Das hat sie mit der Vorlage gemeinsam, auf der Douglas’ Film beruht: Auch in Shirley Jacksons Spukgeschichte „The Haunting of Hill House“ von 1959 wurde eine junge Frau immer mehr vom Geist des Hauses besessen. Hier liegt eine weitere Parallele zu Freud: Nach seiner Vorstellung schafft sich der Mensch aus Angst vor dem Tod einen imaginierten Doppelgänger, der allerdings im Wahn immer mehr die ursprüngliche Person ersetzen kann.

Auch Douglas lässt keinen Zweifel daran, dass die zwanghafte Wiederholung seiner Heldin keinen Ausweg lässt. Ist sie deshalb schon eine Gefangene der Geschichte – womöglich als fiktives Kind der Riots eine Erbin der Rassendiskriminierung? Heute scheint die Lage in Detroit doch komplett bereinigt zu sein, heute hat Detroit einen schwarzen Bürgermeister, der seit sechs Jahren unter dem Titel „Neighbourhood First“ gezielt Geld in afroamerikanische Housing Projects investiert.

Trotzdem hat die City erheblichen Schaden während der Rezession erlitten: Seit den Sechzigerjahren ist die einst blühende Autoindustrie völlig zusammengebrochen – und mit ihr der erste Wohlstand für Afroamerikaner nach dem Krieg. Damals waren die Motown-Hits von Smokey Robinson, Marvin Gaye oder den Supremes der Soundtrack zur Prosperität, inzwischen kommt vor allem Techno aus der Ex-Motorcity. Ursprünglich wollte der Filmemacher deshalb mit dem Elektronik-Wizzard Carl Craig zusammenarbeiten. Am Ende hat Douglas sich doch für ein nachsynchronisiertes Rascheln im Treppenhaus entschieden. Die Musik von Craig wäre ihm dagegen „zu weit über das visuelle Setting hinausgewachsen“, irgendwo ins psychedelische Nirwana der Computerbeats.

Unheimlich ist die Nähe zum Alltag, wo sich das vermeintlich Fremde zeigt

Douglas genügt jedoch schon die unterschwellige Drohung, die im klaren Minimalismus seiner Bilder verankert ist. Das merkt man auch der Serie mit 19 Fotografien an, die parallel zum Film im Hamburger Bahnhof ausgestellt sind. Weite Bereiche der Inner City sind seit 30 Jahren Einöde, über die breiten Avenues von einst wächst nun dichtes Gras, der große Zentralbahnhof von Michigan ist nur noch eine Ruine. Indem Douglas diese Orte dokumentiert, markiert er auch eine Topografie, die als Kulisse am Ende direkt in den Film zu münden scheint. Die Wüsten der Großstadt sind Plateaus für ein vom Leben abgekoppeltes Gemeinwesen – unheimlich eben.

Als die Filmprojektion vor einem Jahr erstmals im Art Institute of Chicago installiert wurde, hat sich auch Okwui Enwezor mit den Ambivalenzen beschäftigt, die die Stärke der Arbeiten von Douglas ausmachen. Für den Leiter der nächsten documenta spiegelt sich ebenfalls die Geschichte der Stadt in der Person von Eleanore wider, die auch in seiner Interpretation nachts durch Abbruchhäuser schleicht. Er sieht darin allerdings eine positive Wendung: Eleanores Präsenz an den Orten des Verfalls stellt überhaupt erst die Verbindung zur schwarzen Sozialordnung wieder her, die Detroit als Wirtschaftszentrum verloren hat. Die Frau als Wiedergängerin führt wieder zurück auf die Spur einer verloren geglaubten Geschichte.

Es ist vermutlich diese Aufladung, der Druck einer scheinbar unentwirrbaren Situation, die Douglas mit „Le Détroit“ festgehalten hat. Als Dokument einer solchen Verflechtung wäre der Film dann aber nur eine sehr verkürzte Illustration von psychoanalytisch eingefärbten Cultural Studies. Deshalb ist die Unschärfe der sich überlagernden Positiv-/Negativbilder immens wichtig. Durch den Kunstgriff schafft Douglas eine fast räumlich greifbare Zwischenzone, in der sich der Betrachter selbst bewegt. Er kann für sich allein entscheiden, auf welcher Seite der Leinwand er steht.

Eleanore kann es nicht: Sie ist Gefangene ihres Doppels und damit einer Kultur, die zur ethnischen Identität gezwungen ist, um sich per kollektiver Differenz einen Platz in der amerikanischen Gesellschaft zu sichern. Auf dieser Linie zumindest versuchen Künstler wie Wynton Marsalis oder Theoretiker wie Cornel West Identität durch Kultur zu markieren. Douglas hingegen, der in der schwarzen akademischen Mittelklasse aufgewachsen ist, scheint mit dieser verordneten Selbstverortung einige Probleme zu haben. Ihm ist jede Einheit schon per se fremd. Vielleicht hat er deshalb ein so unheimliches Interesse an der afroamerikanischen Vergangenheit.

Bis 9. 9., Hamburger Bahnhof, Berlin. Eine Broschüre mit einem sehr lesenswerten Text des Kurators Frank Wagner kostet 3 Mark