Der heilige Wenzel von Temelín

Weil ihr die Argumente ausgehen, führt die tschechische Atomlobby im Streit um das südböhmische Kernkraftwerk lieber nationale Symbole ins Feld

aus Prag ULRIKE BRAUN

Nach monatelangen Reparaturen soll der Probebetrieb des AKW Temelín in der nächsten Woche nun wieder aufgenommen werden – die politische Debatte über den südböhmischen Reaktor läuft dagegen bereits jetzt auf Hochtouren. Diesmal wurde die politische Kettenreaktion allerdings nicht von Bauernblockaden oder protestierenden Umweltschützern ausgelöst, sondern von der deutschen Bundesregierung. In einer schriftlichen Stellungnahme hatte diese die Tschechen vor zwei Wochen darauf aufmerksam gemacht, dass Temelín nicht den deutschen Sicherheitskriterien entspreche und die tschechische Regierung die endgültige Inbetriebnahme des Kraftwerks doch noch einmal überdenken solle.

Prag reagierte empört. Es sei eine „Beleidigung, die tschechische Regierung zu beschuldigen, nicht nur das Leben der eigenen Bevölkerung aufs Spiel zu setzen, sondern auch das von Deutschen und Österreichern“, sagte Außenminister Jan Kavan der österreichischen Presse. Der frühere Dissident war beleidigt: „Auf Arroganz antworten wir nicht.“ Und auch Premier Miloš Zeman sucht nach einer entsprechenden Antwort. Am liebsten würde er den für Mitte August geplanten Besuch von Bundeskanzler Gerhard Schröder, dessen Freundschaft sich der Sozialdemokrat Zeman sonst gerne rühmt, ignorieren.

In ganz Tschechien kursieren inzwischen Konspirationstheorien. Hinter der Kritik der deutschen Politik, so verlautet unter der Hand aus dem Regierungsgebäude, stehe die deutsche Wirtschaft. Ziel der Verschwörung sei es, den Preis von Temelín-Betreiber ČEZ zu drücken, dessen Reprivatisierung kurz bevorsteht. Tatsächlich sind die ČEZ-Aktien nach Bekanntwerden der deutschen Einwände um ein Fünftel ihres Werts gefallen und haben sich bis jetzt noch nicht von ihrem Sturzflug erholt.

Für die ČEZ ist Temelín inzwischen eine Last. Nicht nur, dass der Reaktor wegen ständig anfallender Reparaturen zu einem geldgierigen Fass ohne Boden geworden ist. Er erschwert auch die Privatisierung des Stromgiganten erheblich. Wie einen Ladenhüter bietet die Regierung ihn inzwischen an. Industrieminister Miroslav Gregr will die ČEZ nur als Ganzes verkaufen. Das AKW Temelín schreckt dabei viele potenzielle Kunden, wie zum Beispiel die deutsche Eon ab. Die war bereits Anfang Juli aus den Lieferverträgen mit der ČEZ ausgestiegen, was den tschechischen Stromerzeuger um ein lukratives Geschäft mehr gebracht hat.

Der einzige seriöse Bewerber um die ČEZ ist nun die französische EdF. Sie kann es sich inzwischen erlauben, mit den Tschechen um den ČEZ-Preis zu feilschen. Ist der offiziell noch immer bei 200 Milliarden Kronen angesetzt (rund 12 Milliarden Mark), hat die EdF ihn inzwischen auf 150 Milliarden gedrückt. Insider galuben allerdings, dass der Verkauf der ČEZ nur zwischen 80 bis 100 Milliarden Kronen bringen wird.

Immer weiter wachsen jedoch auch die Probleme der tschechischen Stromversorger. Schon jetzt, also ohne Atomstrom aus Temelín, produzieren Tschechiens zehn marode Kohlekraftwerke und das hoffnungslos veraltete KKW Dukovany einen enormen Überschuss an Strom, der im Land selbst nicht abgesetzt werden kann. Temelín hat tschechischen Strom für viele ausländische Abnehmer nun jedoch zu „schmutzigem Strom“ gemacht. Um Proteste der Anti-AKW-Bewegung gar nicht erst zu provozieren, boykottieren immer mehr Staaten Energie aus Tschechien, und das, obwohl diese zu Dumpingpreisen zu haben ist.

Pech für die ČEZ, die Deutschland bislang zu ihren größten Kunden zählen konnte. Zwar tut Industrieminister Gregr – wegen seiner megalomanischen Pläne gern auch als letztes Relikt des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) bezeichnet – immer noch so, als verstünde er die Proteste gegen sein Lieblingskind nicht. Hinter den Kulissen beginnt man jedoch selbst bei der ČEZ das Projekt Temelín in Frage zu stellen. Dort haben sich inzwischen drei Fraktionen herausgebildet: der harte Kern um Temelín-Direktor František Hezoucky, der das AKW unbedingt am Netz sehen will; die Pragmatiker um ČEZ-Chef Jaroslav Mil, die den Betrieb vom wirtschaftlichen Erfolg abhängig machen wollen; und die kleine Gruppe der Skeptiker, die längst ihren Glauben an solch eine Wirtschaftlichkeit aufgegeben haben.

In den Kneipen und in den Medien spielen bei der Diskussion um Temelín jedoch weder wirtschaftliche Überlegungen, sicherheitstechnische Bedenken noch ökologische Argumente eine Rolle. Die negative Beurteilung aus Deutschland hat den letzten Rest an Rationalität beseitigt. Zurzeit erzeugt Temelín mehr Polemik als Kilowattstunden: Eine Welle der nationalen Wiedergeburt bewegt das Land. Hysterisch wird Deutschland von Politikern und Medienmachern vorgeworfen, es wolle Tschechien mit der Arroganz einer Großmacht bevormunden. Solche Polemiken zeitigen Wirkung. In der Öffentlichkeit ist das Kraftwerk nicht länger nur ein Stromerzeuger, sondern ein nationales Heiligtum geworden. Die Entscheidung über seine endgültige Inbetriebnahme, die wegen Störfällen immer wieder aufgeschoben wurde, ist zu einer Entscheidung über die Souveränität des tschechischen Staats selbst geworden. Die Atomlobby kämpft nun mit dem Nationalheiligen Wenzel für ihre Ziele.