Die Nummer zwei von Srebrenica

Heute fällt das Urteil gegen General Krstić. Er war am Völkermord in Bosnien beteiligt, sagt die Anklage. Er habe nichts damit zu tun, sagt der Angeklagte

aus Den Haag THOMAS VERFUSS

Die Verhandlung vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag dauert seit dem März des Jahres 2000. Angeklagt ist der bosnisch-serbische General Radislav Krstić, festgenommen am 2. Dezember 1998 von Soldaten der internationalen SFOR-Truppe. Der hauptsächliche Tatvorwurf: Völkermord durch Beteiligung am schlimmsten Massaker des Bosnienkriegs, den Erschießungen in der von Serben erstürmten UN-Schutzzone Srebrenica im Juli 1995. An vielen Verhandlungstagen berichteten weinende und verstörte Zeugen und Zeuginnen. Heute verkünden die drei Richter – ein Portugiese, ein Ägypter und eine US-Amerikanerin das Urteil.

Srebrenica war am 16. April 1993 zur UN-Schutzzone erklärt worden. 750 leicht bewaffnete Blauhelmsoldaten – erst kanadische, später niederländische – sollten die Entwaffnung muslimischer Verteidigungtruppen sicherstellen und die bosnischen Serben von weiteren Angriffen abschrecken. Ohne Erfolg. Am 10. Juli 1995 entschloss sich der bosnisch-serbische Armeechef Ratko Mladić, die Schutzzone zu erobern. Einen Tag später fiel die Stadt. Unter serbischem Artilleriebeschuss suchten Zigtausende Muslime Schutz in Potocari, außerhalb der Stadt, wo die Niederländer ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Die Basis konnte die Tausende Flüchtlinge nicht aufnehmen. In umliegenden Fabriken suchten die völlig verängstigten Menschen Schutz. Vergeblich. Serben vergewaltigten Mädchen und Frauen, Tausende Männer wurden in den folgenden Tagen ermordet, Zigtausende Frauen, Kinder und alte Leute deportiert.

Der jetzt 53 Jahre alte Krstić war 1995 Stabschef des bosnisch-serbischen Drina-Korps, das Srebrenica umzingelte. Zu seiner Verteidigung führt er den Umstand an, dass das niederländische UN-Bataillon die Muslime in der Enklave nicht entwaffnet hätte. Die Muslime hätten umliegende serbische Dörfer angegriffen. Dabei seien, so Krstić, Dutzende Serben getötet worden. Die Angriffe bestätigen ehemalige niederländische Blauhelmsoldaten während des Prozesses.

Er habe sich daher gezwungen gesehen, eine Operation zu planen, um die Schutzzone zu „verkleinern“, sagt Krstić. Wie ein Dozent an einer Militärakademie erläutert er vor einer großen Stabskarte, wie der Angriff geplant wurde – das einzige Mal, wo er während des Prozesses aufzuleben scheint. Sonst sitzt er vornübergebeugt auf der Anklagebank.

Auch auf ein im Gericht vorgeführtes Video nimmt Krstić bei seiner Verteidigung Bezug. Von den Serben gefilmt und auf geheimem Weg in den Besitz des Tribunals gelangt, zeigen die Aufnahmen Mladić im Gespräch mit dem Kommandanten der niederländischen UN-Soldaten, Oberst Karremans, und Vertretern der Muslime am Abend des 11. Juli im Hotel Fontana in Bratunac, in der Nähe von Srebrenica.

Vor allem Mladić spricht, voll verhaltener Aggression, während Niederländer und Muslime kaum etwas zu sagen wagen. Mladić droht den Muslimen mit Vernichtung. Krstić sitzt mit am Tisch, raucht, trinkt Kaffee, sagt aber nichts.

Krstić gibt zu, eine wichtige Rolle bei der Eroberung Srebrenicas gespielt zu haben. Nach seinen Angaben wurde er jedoch sofort nach den Treffen im Hotel Fontana nach Zepa geschickt – einer anderen Muslimenklave in Ostbosnien, die von den Serben erobert wurde. Mit den weiteren Ereignissen in Srebrenica, der Ermordung und Deportation Tausender, habe er nichts zu tun gehabt. Die hätten Mladić und andere „kranke Geister“ geplant und ausgeführt.

Demgegenüber konfrontieren die Ankläger Krstić mit dem Funkverkehr der bosnischen Serben, den bosnische Muslime abgehört hatten. In den Gesprächsprotokollen bestellt Krstić Dutzende Busse für Massendeportationen, schickt Verstärkungen für Erschießungskommandos und erteilt den Auftrag, die „Türken“ zu töten. Allerdings wurden die Originaltonbänder von den Muslimen wegen Materialmangels überspielt, so dass nur die Notizen und die Zeugenaussagen der abhörenden Muslime als Beweismaterial eingebracht werden konnten. Krstić räumt ein, dass er nach der Rückkehr aus Zepa von den Massenmorden hörte. Nach Versuchen, eine Untersuchung anzustrengen, seien er und seine Familie bedroht worden. Für die Ankläger ist dies kein Argument: Nach geltendem Kriegsrecht hätte er Mladić’ Verbrechen beim Oberbefehlshaber, dem bosnisch-serbischen Präsidenten Radovan Karadžić, melden müssen.

Die UN-Ankläger verweisen auf den gewaltigen Umfang der Operation: Dutzende Busse, um die Muslime zu den Exekutionsorten zu bringen, die zahlreichen Soldaten, die mitmordeten, Material wie Benzin, Munition, Augenbinden und Handfesseln. Die Aktion musste geplant gewesen sein, argumentieren sie, spätestens in der Nacht vom 11. zum 12. Juli im Hotel Fontana, wo Mladić und Krstić anwesend waren. Die Ankläger fordern lebenslänglich, die Verteidigung Freispruch.

Für Verurteilung wegen Völkermords muss auch die Absicht zur Vernichtung einer Bevölkerungsgruppe nachgewiesen werden. Bisher hat das Haager Tribunal noch niemanden wegen dieses Tatbestands verurteilt. Sollte jemals der noch auf freiem Fuß befindliche ehemalige bosnisch-serbische Armeechef Mladić nach Den Haag überstellt werden, ist ihm diese Absicht wahrscheinlich einfacher nachzuweisen als Krstić.