Briefkasten, avanti!

Dreihundert Stunden Ausbildung im Führgeschirr: Wie Blindenhunde lernen, sich, wenn nötig, gegen den Willen ihres Herrn durchzusetzen

von ULRIKE SCHNELLBACH

Mit Dieter Keller Schritt zu halten ist gar nicht so einfach. Dieter Keller ist Ende dreißig, und er ist blind. Und er marschiert in einem Tempo durch seinen Freiburger Wohnbezirk, als wäre die Welt nicht voll von Hindernissen: Mülltonnen, die im Weg stehen, Autos, die auf Gehsteigen parken, und Baustellen, die über Nacht eine vertraute Stelle in eine gefährliche Falle verwandeln. „Wenn ich mit dem Stock unterwegs bin“, sagt Dieter Keller, „bemerke ich ein Hindernis erst zwei Meter vorher. Aber seit ich Berry habe, brauche ich mich darum gar nicht mehr zu kümmern.“

Berry ist ein vornehmer grauer Königspudel und ausgebildeter Blindenführhund. Kopf und Schwanz hoch erhoben, schreitet er voran, Keller, die Hand am Führgeschirr, dicht an seiner Flanke. Rechts von sich lässt der Hund stets genug Platz, damit Keller nicht aneckt. So umgeht das Gespann mit schlafwandlerischer Sicherheit Baumstämme und Passanten, weicht Fahrrädern und Mülltonnen aus.

Wenige Meter vor der Straßenkreuzung sagt Keller leise „destra“, italienisch für „rechts“. An der Ecke biegt Berry rechts ab. „Man muss selber wissen, wohin man gehen will“, erklärt Keller. „Man muss eine Art Stadtplan im Kopf haben.“ Denn für Berry gilt: Solange er keine Anweisung bekommt, geht er geradeaus.

„Avanti, Berry, cassetta!“ – „Briefkasten!“ Als nach wenigen Metern ein Briefkasten am Straßenrand auftaucht, geht der Hund stracks darauf zu und springt daran hoch. „Brav, Berry“, lobt Keller und belohnt ihn mit einem Hundekeks. Keller kennt diesen Briefkasten. Doch mit dem Stock, erklärt er, müsste er sich mühsam herantasten. Berry nimmt ihm das ab.

„Destra“, „avanti“, „cassetta“? Italienisch hat Berry von Susanne Grünberger gelernt, bei der er acht Monate lang in die Lehre ging. Die Blindenhundtrainerin hat ihre Ausbildung in der Schweiz gemacht, wo italienische Hörzeichen für Führhunde üblich sind.

Insel Reichenau. Am Ortsrand ein Haus mit blauen Fensterläden, im Garten ein leerer Zwinger. Hier betreibt die 36-jährige promovierte Verhaltensbiologin ihre Führhundeschule, einen Einefraubetrieb. Keine Klingel, stattdessen kündigt mehrstimmiges Gebell die Besucherin an. Im Treppenhaus ein Knäuel wuselnder Hunde, aufgeregtes Hochspringen und Schnuppern, dann verteilen sie sich in der Wohnküche: zwei schwarze Labradore, ein Schäferhund, ein weißer Königspudel.

Susanne Grünberger stellt Kaffee auf den Tisch und beginnt zu erzählen. Das mit dem Briefkasten, sagt sie und lacht, das sei eine der einfachsten Übungen. Ein paarmal spreche sie das Hörzeichen „cassetta“, zeige dem Hund einen Briefkasten und belohne ihn mit Hundekeksen, wenn er daran hochspringt. „Sie fangen mit einem oder zwei Briefkästen an“, erklärt die Trainerin, „erst später generalisieren Sie die Übung. Es ist wichtig, dass der Hund erst mal ein paar Erfolgserlebnisse hat.“

Viel schwieriger als die Sache mit dem Briefkasten, sagt Susanne Grünberger, sei etwas scheinbar ganz Einfaches: den Hunden beizubringen, geradeaus zu gehen. Denn aus eigenem Antrieb würde ein Hund in der Stadt dem Verlauf der Häuserfront folgen, also an jeder Straßenecke abbiegen. Das soll er jedoch nur auf Anweisung. Zum Training packt Grünberger alle vier Hunde in ihren Kastenwagen und fährt in die Konstanzer Innenstadt. Victor, der anderthalbjährige Schäferhund, ist als Erster an der Reihe. Er ist erst seit zwei Monaten in der Ausbildung, aber die Richtung hält er schon zuverlässig. „Ich lasse ihn zunächst seinem Instinkt folgen und an der Straßenecke abbiegen“, erklärt Grünberger, wie sie es ihm beigebracht hat. „In dem Moment stoppe ich ihn heftig. Der Hund muss einfach merken, dass es ihm unangenehm ist, wenn er abbiegt.“

Heute hat sie für Victor eine Fortgeschrittenenübung vorbereitet, „eine der schwierigsten“. In etwa anderthalb Meter Höhe hat sie ein weißrotes Plastikband quer über den Gehweg gespannt – für den Hund selbst kein Hindernis, für einen blinden Menschen schon. Victor, Susanne Grünberger am Führgestell im Schlepptau, geht auf das Plastikband zu, zögert, bleibt stehen. „Vai“ (weiter), sagt Grünberger, denn als „Blinde“ ahnt sie ja nichts. Victor dreht sich einmal um die eigene Achse – das Zeichen, dass es hier nicht weitergeht. Dann biegt er links zur Straße ab, sucht sich seinen Weg um die geparkten Autos herum. Nur anschließend wieder auf den Gehweg einzubiegen, das vergisst der Hund offenbar. Grünberger fuchtelt mit einem Stock links neben seinem Kopf. Der Hund weicht aus, biegt rechts auf den Gehweg ein. „Bravo!“, lobt Grünberger.

Wie hat Victor gelernt, einen Ast, eine Schranke oder ein Plastikband über seinem Kopf als Hindernis wahrzunehmen? Die ersten Male versteckt sich ein zweiter Trainer am Straßenrand und hält einen Stock über den Gehweg, verrät Grünberger. Kurz bevor der Hund darunter durchgehen will, lässt er den Stock nach unten sausen – der Hund erschrickt. „Alles, was mit Erschrecken zu tun hat“, erklärt die Trainerin, „merken sich Hunde schnell.“ Danach sei es wichtig, ihnen die Angst wieder zu nehmen. „Der Hund muss Hindernisse als positive Herausforderung erleben, sonst bleibt er nur stehen und traut sich nicht weiter.“ Als Victor an diesem Trainingsmorgen, eine Weile nach der ersten Übung, einen Ast über seinem Kopf bemerkt, bleibt er stehen – und wedelt. Grünberger freut sich: „Er weiß schon, dass er die Herausforderung meistert.“

Die Erschreckmethode setzt Grünberger nur selten ein. Meist arbeitet sie mit Lob und Belohnung, allenfalls mit sanftem Druck. „Es muss den Hunden Spaß machen, mit dem Menschen zu arbeiten“, erklärt sie. Überhaupt: Blindenhunde dürfen nicht wie andere Hunde gedrillt werden. Denn sie müssen nicht blind gehorchen, sondern sich in Gefahrensituationen nötigenfalls gegen ihren Besitzer entscheiden können. Deshalb spricht Grünberger auch nicht von „Befehlen“, sondern von „Hörzeichen“: „Die Hunde müssen Widerstand leisten, wenn es sinnvoll ist.“

Unterwegs mit Dieter Keller und Berry in Freiburg wird klar, was die Trainerin damit meint. Der Hund stoppt an einer Straße, Keller horcht; kein Autogeräusch, also: „Avanti!“ Doch Berry bleibt stehen. Er hat den Radfahrer gesehen, der sich fast lautlos nähert.

Es ist ein hartes Stück Arbeit, die Hunde auszubilden. Anderthalb Stunden trainiert Susanne Grünberger mit jedem Hund jeden Tag, insgesamt kommen 250 bis 350 Stunden im Führgeschirr zusammen. Wochenenden und freie Tage kennt sie kaum. Drei bis vier Hunde hat sie gleichzeitig in Ausbildung, je acht Monate lang. Susanne Grünberger lebt mit ihren Hunden, sie sind ihr „Arbeitskollegen“ und „Mitbewohner“. Und Einkommensquelle. Für einen ausgebildeten Führhund bezahlt die Krankenkasse zwischen 35.000 und 44.000 Mark.

Die Biologin hat hohe Ansprüche an die Hunde, die sie zur Ausbildung annimmt: „Sie müssen menschenfreundlich und arbeitsfreudig sein, selbstständig und kreativ.“ Viel Sorgfalt verwendet sie am Ende auch auf die Zusammenstellung des „Gespanns“. Denn nicht jeder Hund passt zu jedem Blinden: Ein junger Mann wie Dieter Keller braucht eher einen forschen, mutigen Hund, eine alte, gebrechliche Frau einen, der vorsichtig und langsam geht. Bevor sie einen Hund endgültig abgibt, bildet Grünberger das Gespann drei Wochen lang gemeinsam aus.

Weiter durch Konstanz mit dem Schäferhund Victor. Über viel befahrene Straßen, zwischen parkenden Autos hindurch in die belebte Fußgängerzone. Plötzlich läuft Victor aufgeregt auf eine Passantin zu, springt an ihr hoch. Es ist Grünbergers Mitbewohnerin.

Streng genommen hätte der Hund sie ignorieren müssen, denn solange er im Führgeschirr ist, darf er sich nicht ablenken lassen. Aber Victor ist ja erst am Anfang der Ausbildung. Am Ende wird er zwanzig bis dreißig „Hörzeichen“ beherrschen wie „passare“ (Straße überqueren), „piano“ (langsam) oder „casa“ (nach Hause). Er wird Treppen, Aufzüge, Ampeln anzeigen und in der Straßenbahn einen freien Sitzplatz. An der Straße wird er nicht nur stehen bleiben, sondern auch einen geeigneten Übergang suchen, am besten einen Zebrastreifen. Und vor allem darf sich der Hund dann nicht mehr ablenken lassen, weder von Katzen noch von anderen Hunden. „Ein Führhund im Geschirr“, sagt Susanne Grünberger, „muss seine eigenen Interessen hintanstellen.“ Er darf dann nicht mal pinkeln.

Doch natürlich arbeitet auch ein Führhund nicht immer tadellos. Selbst Berry, der die hohe Schule lange hinter sich hat, macht manchmal noch Fehler. Wie an diesem Tag im Gedränge in der Freiburger City. Der Hund schlängelt sich durch, will gerade einen Schuhständer umgehen, da stößt Dieter Keller mit dem Oberkörper gegen einen ausgestreckten Arm, der nach einem Schuh greift. Ein „Höhenhindernis“, das Berry übersehen hat. Keller nimmt’s nicht tragisch. „Das kann Ihnen auch passieren, obwohl Sie sehen können“, entschuldigt er den Hund. Überhaupt, sagt er: „Man darf sich das nicht vorstellen wie mit einer Maschine.“

Auf dem Heimweg gibt er Berry an einer Wiese frei. Sofort beginnt der sonst so disziplinierte Königspudel fröhlich mit anderen Hunden herumzutollen. Wie Susanne Grünberger sagte: „Wenn die nicht im Geschirr sind, dann sind das ganz normale Hunde. Mit jeder Menge Quatsch im Kopf.“

ULRIKE SCHNELLBACH, 35, ist Politikredakteurin der Zeitung zum Sonntag in Freiburg