Ein Haus mit Garten wäre schön

Das Fernsehen schult seit vierzig Jahren unseren Blick auf ferne Tierwelten. Den gelegentlich strapaziösen Alltag mit Haustieren zeigt es aber nicht. Die Tierheime sind überfüllt, weil viele Menschen einen Hund nur im TV gern haben

von KLAUDIA BRUNST

Timmy ist ein Retriever-Collie-Mischling und schwer vermittelbar. Sein langes Fell, das entfernt an den Fernsehhelden Lassie erinnert, braucht viel Sorgfalt und Pflege. Das schreckt die Besucher des Tierheims natürlich ab. Deshalb wurde Timmy für den Fernsehauftritt von seinen Betreuern besonders ausgiebig gebadet und lange gestriegelt.

Jetzt steht sein goldenes Fell prächtig da und überdeckt die Folgen seiner Selbstverletzungen. Timmy beißt sich die Vorderpfoten auf – Zwingerkoller.

Timmy ist ein so genanntes Fundtier – einer von unzähligen Hunden, die von ihren überforderten Besitzern ausgesetzt wurden. Im Fernsehen suchen sie nun nach einer neuen Heimat. „Ein Haus mit Garten wäre schön“, sagt die Pflegerin. Aber das hat sie auch bei Nini gesagt, die immer jammert, wenn sie allein gelassen wird, bei Bingo, die sich „spazierfreudige ältere Herrschaften“ für ihren Lebensabend wünscht, und bei der Scheidungswaisen Sahron, die längst keine großen Ansprüche mehr stellt – nur ein bisschen Salbe für die entzündete Nase wäre unverzichtbar.

Die Aufnahme und Neuvermittlung herrenloser Haustiere ist vernünftigerweise regional organisiert. Allein der Deutsche Tierschutzbund unterhält 505 Tierheime. Timmys Zwinger steht in Bad Kissingen. Wer an diesem Freitag in Krefeld vor dem Fernseher saß und sich in der bundesweit ausgestrahlten Sendung „Herrchen gesucht“ in Timmys traurigen Hundeaugen verliebt hat, wird eigens nach Unterfranken reisen müssen, um sich dort davon zu überzeugen, dass der Hund auch in natura hält, was die flüchtigen zweieinhalb Fernsehminuten versprachen.

Es ist also eher mühsam, sich bei der Suche nach einem Haustier statt an ein nahe gelegenes Tierheim an diese televisionäre Vermittlungsstelle zu wenden. Dennoch haben neben „Herrchen gesucht“ noch zwei weitere Tiervermittlungssendungen in der ARD ihren angestammten Platz – „Tiere suchen Menschen“ vom Mitteldeutschen und „Tiere suchen ein Zuhause“ im WDR erfreuen sich beim Publikum großer Beliebtheit. Heimatlose Kreaturen wie Timmy finden hier tatsächlich eher ein Zuhause als im Zwinger des Kissinger Tierheims. Deshalb ist die Pflegerin froh, heute bei „Herrchen gesucht“ landauf, landab für ihre Sorgenkinder werben zu dürfen.

Was zunächst unpraktisch wirkt, ist für den Fernsehzuschauer Teil seiner medialen Wirklichkeit. Denn die räumliche Distanz Krefeld–Bad Kissingen hatte das Fernsehen längst aufgehoben, ehe die Globalisierung unsere Wirtschaftswelt zum Global Village machte. Obwohl föderal organisiert, hielt die „Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands“ (ARD) schon bei ihrer Gründung vor fünfzig Jahren nicht viel von regionalen Unterschieden. Von Beginn an wurde in der ARD konsequent für ein räumlich unverortetes Publikum gesendet.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat in der Frühphase der Television viel dazu beigetragen, die bundesrepublikanischen Lebenswelten zu synchronisieren. Anders als Theater oder Kino war das neue Medium standortunabhängig. Wo immer man es aufstellte, ob in den quirligen Kulturmetropolen oder auf einer norddeutschen Hallig, vermittelte es internationale Politik und urbane Weltkultur. In seinen Ratgebersendungen offerierte es zudem allerhand praktische Lebenshilfe; es erteilte Kochkurse und Fremdsprachenunterricht, sogar Quickstepp und Walzer konnte man lernen.

Dieses neue weite Land „Television“ war den Leuten bald näher als die örtliche Volkshochschule, die nahe gelegene Tanzschule, das benachbarte Tierheim. Und weil in der Fernsehwelt konsequent die Hochsprache gepflegt wurde, haftete den regionalen Dialekten alsbald auch außerhalb dieses virtuellen Raums der Makel des Hinterwäldlerischen und Unzeitgemäßen an.

Heimat? Die Welt des Fernsehen ist grenzenlos – das neue Zuhause so weit aufgespannt und tief gefächert, wie das Kameraauge reicht. Manchmal, wiewohl nicht oft, blickt es sogar auf den Mond. Weit früher, nämlich schon 1956, wurde Afrika kolonisiert und die Serengeti eingemeindet. In jenem Jahr startete der Hessische Rundfunk die Reihe „Ein Platz für Tiere“ unter Leitung des Frankfurter Zoodirektors und Tierfilmers Professor Bernhard Grzimek. Der hatte soeben für seine Kinodokumentation „Serengeti darf nicht sterben“ einen Oscar erhalten und setzte seinen Kampf für den Erhalt der afrikanische Savanne nun im Fernsehen fort. Mit beachtlichem Erfolg. Der Tierprofessor war in seiner Popularität den Unterhaltungsstars Peter Frankenfeld oder Hans-Joachim Kulenkampff ebenbürtig.

Grzimek war eigentlich kein idealer Präsentator. So wie der hagere Mann vor dem tristen Vorhang an einem schmucklosen Holztisch saß, wirkte er eher ungelenk als telegen. Seine betuliche Begrüßungsformel „Guten Abend, meine lieben Freunde“ trug er mit näselnder, etwas atemloser Stimme vor, der ganze Auftritt hatte durchaus etwas Onkelhaftes. Grzimek kam aber nie allein, er brachte einen Gepard oder einen Schimpansen mit ins Studio wie Kinder ihre Zwergkaninchen zum Kindergeburtstag.

Sein naturschützendes Sendungsbewusstsein verlor so die Abstraktheit des Entlegenen, sein mit Verve vorgetragenes Engagement für die natürlichen Lebensräume der Antilopen materialisierte sich aufs lebendigste durch seine exotischen Begleiter, die Grzimeks monotone Moderationen gelegentlich dadurch belebten, dass sie ihm liebevoll das bebrillte Gesicht abschleckten oder gar vor laufender Kamera in seinen Schoß urinierten.

Für die Veranschaulichung des Artensterbens war es völlig unerheblich, dass diese Vierbeiner ihre „natürlichen Lebensräume“ nie gesehen hatten, sondern allesamt aus dem Frankfurter Zoo stammten. „Ein Platz für Tiere“ wurde die erfolgreichste Tierreihe der Welt, und jene Kindergeneration, die vor dem Zubettgehen so komplizierte Begriffe wie „Nahrungskette“ oder „Brandrodung“ erlernte, setzte später eine Ökologiebewegung in Gang, die Grzimeks „Serengeti darf nicht sterben“ mit dem gleichen Enthusiasmus in „Rettet die Wale“ übersetzte.

Grzimek blieb nicht der einzige Lehrmeister der grünen Generation. Bis 1991 brach Heinz Sielmann insgesamt 170-mal zu seinen „Expeditionen ins Tierreich“ auf. Der Biologe und freie Tierfilmproduzent machte die Galapagosinseln berühmt und perfektionierte die „versteckte Kamera“, um in Zusammenarbeit mit namhaften Verhaltensforschern die universelle Logik von Balz, Brut und Familienaufzucht zu visualisieren.

Der österreichische Meeresbiologe Hans Hass öffnete uns in seiner Serie „Expedition ins Unbekannte“ mit spektakulären Unterwasseraufnahmen die Augen für die Geheimnisse der Ozeane, und in seiner Nachfolge wurde der französische Marinekapitän Jacques Cousteau zum internationalen Fernsehstar.

Anders als Hass, der als Biologe die bloße Ablichtung der Unterwasserwelt zum Ziel seiner Auftritte gemacht hatte, inszenierte sich Cousteau als televisionärer Schatzsucher. Mit dem Forschungsschiff „Calypso“ nebst seiner männerbündischen Mannschaft stach er nicht nur in See, um Fische zu filmen, sondern auch um immer neue „Abenteuer unter Wasser“ zu bestehen.

Diese Fernsehzoologen, zu denen zeitweilig auch der Ökojournalist Horst Stern („Sterns Stunde“) gehörte, hatten mit ihrem anschaulichen Wirken weltweit nachhaltigen Erfolg. Mitte der Neunzigerjahre schickte die BBC – inzwischen führend in der internationalen Naturfilmproduktion – Forscherteams an jene Orte, die der deutsche Oscarpreisträger Eugen Schuhmacher dreißig Jahre zuvor mit seiner Kinodokumentation „Die letzten Paradiese“ berühmt gemacht hatte. Es stellte sich heraus, dass keine der damals bedrohten Tierarten ausgestorben war. Im Gegenteil, die internationale Aufmerksamkeit hatte einen strengeren Schutzstatus für Flora und Fauna der Regionen erwirkt.

Dennoch hat die televisionäre Tierliebe nicht nur Gutes bewirkt. Zwar kann nach vierzig Jahren Fernsehschule jeder Zuschauer nun das Abc des ökologischen Gleichgewichts im Schlaf herunterbuchstabieren, aber die ausgefeilte Technik von Teleobjektiv bis Mikrolinse, mit der die professionellen Teams in die unberührte Natur hinausziehen, hat hohe visuelle und dramaturgische Standards gesetzt: Ansprüche, die kaum mehr in der freien Wildbahn eingelöst werden können, sondern im Studiobiotop mit Kunstlicht hinter Glaswänden nachgestellt werden müssen. Auch hat sich die abenteuerliche Cousteau-Dramaturgie allgemein durchgesetzt.

Moderne Tierfilme sind kein aufwendiger Biologieunterricht mehr, sie erzählen vor allem spannende Geschichten. Unweigerlich sind die Teilnehmer touristischer Fotosafaris nun enttäuscht, wenn sie die am Horizont dösenden Löwen mit bloßem Auge nicht erkennen können, wenn die Antilopen nicht wie im Fernsehen um ihr Leben rennen, wenn die Korallenriffe auf der geführten Tauchtour am Barrierriff ohne die gleißenden Unterwasserleuchten nicht so farbenprächtig schillern – und auch kein noch so kleiner Hai die friedliche Atmosphäre stört.

Selbst die hiesigen Tierparks schlagen Alarm. Die optisch verwöhnten und zoologisch halbgebildeten Besucher beschweren sich zunehmend selbstbewusst, sobald sie im ungewohnt lethargischen Verhalten der Zooinsassen bedrohliche Spuren nicht artgerechter Haltung zu erkennen meinen. Schwer zu vermitteln, dass sich selbst der psychisch gesündeste Elefant regelmäßig die Dickhaut scheuern muss, dass Huftiere auch in freier Wildbahn die meiste Zeit ihres Lebens trübe auf der Stelle stehen, dass sogar der König der Löwen 20 von 24 Stunden des Tags verschläft – kurzum: dass die Tierwelt in Wahrheit eben doch oft banal und langweilig, jedenfalls nicht so wild und gefährlich ist wie im Fernsehen.

Grzimeks „Platz für Tiere“ hätte Timmy auch nicht geholfen. Denn von der televisionären Hege blieben die domestizierten Haustiere bis heute ausgespart. Kaum ein Magazinbeitrag, der sich je mit Bedürfnissen und Lebensbedingungen von Hund und Katz beschäftigt: Warum sind Rüden an der Leine aggressiv? Wie viel Spiel braucht eine Stubenkatze? Wann ist ein Zwergkaninchen glücklich? Die alltäglichen Fragen im Zusammenleben mit Haustieren sind kein Thema für den Naturfilm. Sie bleiben den Servicerubriken der dritten Programme überlassen. Dabei täte Aufklärung durchaus Not.

Das Fernsehen hat auch etwas an der grünen Generation wieder gutzumachen: Die amerikanischen Kultserien der Sechziger- und Siebzigerjahre wie „Lassie“ oder „Fury“ haben mit ihren anthropomorphen Tierhelden emotional schier uneinlösbare Erwartungen geweckt und zugleich bedrohlich wenig über die arttypischen Bedürfnisse von Hunden oder Pferden vermittelt.

Auslauf? Fellpflege? Die Mühsal von Erziehung und Dressur? Von Krankheit und Alter? Geparde leben in Grzimeks geschützter Natur. Haustiere leben im Fernsehen dort, wo es die Welt frei erfinden darf – in einer trügerischen Idylle. Sie tollen im weitläufigen Garten des Fachwerkhauses nahe der „Schwarzwaldklinik“ herum, wo der Professor nach erfolgreicher Herzoperation seinem Hündchen Cherry am Gartenzaun zur Begrüßung liebevoll übers Köpfchen streichelt. Oder im „Forsthaus Falkenau“, wo der ausgebildete Jagdhund selbstverständlich zur Familie gehört. Sie werden nie krank und verlangen keine Nachtrunde im Dauerregen, sie müssen nie gestriegelt werden und stinken nicht aus dem Maul.

Lassie war ein treuer Freund, Timmy braucht einen treuen Freund. Lassie machte Freude, Timmy macht Arbeit. Das ist ein Unterschied, den man im gleißenden Studiolicht von „Herrchen gesucht“ doch nur schemenhaft erahnen kann. Und so hofft die Moderatorin nicht zu Unrecht, dass sich unter den vielen tierlieben Zuschauern findet, was das örtliche Tierheim bisher nicht beschaffen konnte: jemand, der dem ausgesetzten Timmy ein neues Zuhause bietet. Ein Garten wäre schön.

KLAUDIA BRUNST, 37, lebt als freie Journalistin in Berlin. In ungekürzter Fassung erschien ihr Text in der Neuen Rundschau – „ Vom öffentlichen und privaten Gebrauch der Tiere“, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, Heft 2/2001, 166 Seiten, 16 Mark