In der Bikini-Serengeti

Die Badeanstalt. Eine melancholische Betrachtung aus der Decken- und Handtücherwelt

Heute geniert sich kein Mensch mehr, obwohl manche gut beraten wären, es doch zu tun

Von außen hat sich die alte Badeanstalt am Gaswerk nicht verändert. Die Drehkreuze an der Kasse, die hohe Mauer aus Knochen- und Glasbausteinen. Damit man nicht umsonst die Badenden und das blaue Wasser sehen kann.

Vor der Badeanstalt spenden alte Bäume nach wie vor kühlenden Schatten und bieten Möglichkeiten die Fahrräder unterzustellen. Früher wie heute: Fahrräder, Fahrräder! Wenn auch die Fahrräder früher anders aussahen. Alte, verrostete Dinger, denen immer die Kette absprang. In der Mehrzahl praktischerweise Damenräder, in die man hineinwachsen konnte. Auch sehr kleine Knaben besaßen manchmal sehr große Damenräder. Zum Hineinstehen, dank der fehlenden Stange und zum In-die-riesigen-Pedale-treten. Dass einem fast die Knie ans Kinn knallten, bei jeder Umdrehung.

In die Badeanstalt geht man nach wie vor. Und an der Kasse sitzen nach wie vor enttäuscht blickende mittelalterliche ehemalige Sekretärinnen, die eigentlich was Besseres zu tun hätten. Die Eintrittspreise haben sich schätzungsweise versechsfacht und eine „Sammelumkleide“ wird niemand mehr zugemutet. Für zwei Mark gibt es ein Schließfach. In der guten alten Zeit benötigte niemand ein Schließfach. Denn die jungen Herren enterten die Anstalt bereits komplett für die Bedürfnisse des Badens ausstaffiert. Fünf Mickey-Mouse-Hefte zur Entspannung, eine kratzige Decke zum Abliegen und die Badehose. In der sich ein raffiniert verborgenes Täschchen befand. Für Kleingeld. Für Brause und Sunkist und Landjäger mit Brot. Es heißt übrigens Suunkist. Nicht Sankist. Gibt es Suunkist noch?

Sonnenmilch gibt es noch. Nur: Der Sonnenschutzfaktor ist von drei auf vierundzwanzig gestiegen. Sonst ist alles wie immer, auch was die Badeanstalt-Hierarchie angeht. Die des Brauntones nämlich. Ganz unten die Leichenblassen, die „Kaasloiberln“. Neulinge. Staksen vorsichtig und wie auf Zehenspitzen über die Liegewiese, können sich nie entschließen, wo sie ihre Decke ausbreiten sollen, und machen zickige, zierliche Finger, wenn sie die Zehen ins Wasser strecken: „Ob ich noch schwimmen kann . . .“ und „hoffentlich springt keiner . . .“ Lächerlich.

Ganz anders die Tiefbraunen. Die sind hier daheim und schreiten souverän durch die Decken- und Badetücherwelt. Manchmal fast etwas ärgerlich, weil sich wieder so viele fremde Leute in ihrer Anlage lümmeln. Die Gerösteten sind entweder ziemlich jung oder Hausfrauen oder, wenn männlich, schwache Vierziger. Gern mit Schnauzbart, Pilotenbrille und Goldschmuck. Man wird den Eindruck nicht los, dass diese Herren keiner geregelten Arbeit nachgehen. Was die wohl treiben? Spielothek oder Nachtclub oder noch schlimmer . . .? Sie betrachten die Damen jedenfalls mit diesem leicht höhnischen Gesichtsausdruck, wie ihn Detektive in älteren amerikanischen Serien beim Anblick großbusiger Frauen gern zeigen: „Wenn ich nur wollte, meine Süße . . .“ Gefährlich, gefährlich. Wilderer in der Bikini-Serengeti. Träge wie große Katzen, auf die im Schatten dämmernden Hausfrauen-Gazellen lauernd und fachmännisch deren Blöße studierend. Apropos Blöße: Das hat es früher nicht gegeben, dieses Präsentieren der oberen Extremitäten. Damals verknotete man sich scheu unter einer Art Duschvorhang oder ging in die Umkleide. Tempi passati. Heute geniert sich kein Mensch mehr, obwohl manche nicht schlecht beraten wären, es doch zu tun. Wegen Faltenwurf und wegen der lauernden Großkatzen. Die schon mal die Mähne schütteln, wenn ein fetter Happen vorbeischnürt – in finaler Aktion sieht man sie aber dann doch nie.

Ihre noch harmloseren und noch zahnloseren Kollegen, die matten Hauskater, halten sich da lieber gleich im Verborgenen. Die Weiblichkeit betrachtet man vorsichtig, wie die Bewohner eines fernen Planeten: interessant, aber ein wenig unheimlich. Schutz bieten die hässlichen Plastikmöbel vor dem Kiosk. Dort wollen die Frauen nicht hin, und da muss man den Bauch nicht mehr einziehen und kann die Plunze ungeniert auf den Knien lagern. Und mit anderen, wohlbeleibten Kollegen über die alten Tage schwadronieren: „Da hinten sind wir über den Zaun, der Greimeltshofer und ich . . .“ – „Sag bloß, du und der Greimeltshofer?“ – „Genau. Und der verrückte, dicke Martin hat für Brause vor den Mädchen die Hose heruntergelassen. Das war ein Gekreische.“ – „Sag bloß, der verrückte Martin . . .?“

Lange ist das her. Der verrückte Martin ist auch schon länger tot, und die Hose lässt heutzutage niemand mehr herunter. Für Brause schon gar nicht. Man sitzt noch eine Weile stumm auf den Plastikstühlen und lässt sich die Sonne aufs matte Fell brennen. Dann steigt man wieder in die durchsichtigen Kunststofflatschen und macht sich auf den Heimweg. Nicht ohne vorher in der Umkleide mit dem Finger prüfend übers Resopal gefahren zu sein. Wegen der Gucklöcher. Umsonst – die Mühe macht sich heutzutage auch keiner mehr.

ALBERT HEFELE