Ein Denkmal für die Erschossenen

500 Unterschriften im In- und Ausland hat Jürgen Litfin für den Erhalt der „Führungsstelle“ gesammelt und Sponsoren für die Instandsetzung gewonnen

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Noch wackelt der Turm nicht. Doch die ersten Alterserscheinungen machen sich bemerkbar: Die Regenrinne ist verrostet. Auch an der eisernen Eingangstür frisst sich der Rost voran. Und erste Risse im Beton lassen erkennen, dass er vor langer Zeit gemischt wurde. Geradezu neu sehen die blauweißen Metallschilder aus, die den Turm als „Denkmalschutzgebiet“ ausweisen. Auf die Rückseite hat jemand mit schwarzer Farbe gekritzelt „Ab heute alle glücklich!“ und „Aber nur saukalt“. Glück und Kälte lagen nah bei einander am 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls.

Der Turm ist nicht irgendein Turm. Es handelt sich um eine ehemalige „Führungsstelle der Grenztruppen“ der DDR. In Berlin gab es neben über etwa 300 Wachtürmen verschiedenster Bauart nur drei „Führungsstellen“. Von dort aus kontrollierten Kompaniechefs, unterstützt von „Festnahmegruppen“, die Grenze. Wenige hundert Meter von der „Führungsstelle am Kieler Eck“ in Berlin Mitte entfernt wurde elf Tage nach dem Mauerbau der erste Flüchtling erschossen. Der Schneider Günter Litfin (24), der im Ostteil wohnte und im Westteil arbeitete, wurde beim Versuch, den Humboldthafen zu durchschwimmen, von Gewehrsalven getroffen (s. Kasten).

„Der Günter muss sich verkalkuliert und gedacht haben, dass das Wasser zum Westen gehört und dass er dort nicht erschossen wird“, sagt sein Bruder Jürgen Litfin, der einzige der fünf Brüder, der noch lebt. Bis heute ist es dem 61-jährigen Rentner ein Rätsel, wieso sich sein Bruder, „ein stiller, überlegender Mensch“, gerade diese Stelle zur Flucht ausgesucht hat.

Erinnerungen an die Schikanen

Die „Führungsstelle“ stand damals noch nicht, sie wurde erst in den Achtzigerjahren errichtet. Trotzdem kämpft Jürgen Litfin für den Erhalt und die Einrichtung einer Gedenkstätte. Er will die Erinnerung an den Tod seines Bruders und der anderen Mauertoten wach halten: „Es ist schon zu viel abgerissen worden.“ Günter Litfin stand stets im Schatten des zweiten Mauertoten, Peter Fechter, von dessen dramatischen letzten Stunden im August 1962 es zahlreiche Fotos und Filmaufnahmen gibt und an dessen Grab der Berliner Senat jedes Jahr am Tag des Mauerbaus mit einer Kranzniederlegung der Mauertoten gedenkt. „Mir ist es egal, ob mein Bruder der erste, der 15. oder der 60. Mauertote war“, sagt Jürgen Litfin. „Jeder ist einer zu viel.“ Wie jedes Jahr am 13. August wird er auch diesmal Fechters Grab aufsuchen. Das Grab seines Bruders jedoch wird er an diesem Tag, wie auch in den Jahren zuvor, meiden. „Das ist immer wieder schmerzaufrührend.“

Am Grab seines Lieblingsbruders, der in Weißensee wohnte und am Kurfürstendamm als Damen-und-Herren-Maßschneider „alles, was Rang und Schulden hatte, beschneiderte“, kommen all die Erinnerungen hoch: an den Anzug, den Günter Litfin als Gesellenstück für seinen Bruder Jürgen anfertigte; an die Sterbeurkunde ohne Vermerk der Todesursache; an das Verhör einen Tag nach den tödlichen Schüssen; an die Durchsuchung bei der Mutter, nach der die Wohnung „wie eine mexikanische Würfelbude“ aussah; an die Beerdigung, bei der Jürgen Litfin heimlich den verplombten Sarg mit einem Rödeleisen öffnete, um den Toten noch einmal zu sehen; an die heimliche Umbettung des Bruders zwei Jahre nach dessen Tod, um ihn in ein frei gewordenes Doppelgrab mit dem Vater zu legen; an die jahrelange Beschattung durch die Staatssicherheit; an die mehrmonatige Haft in der DDR, zu der er zusammen mit seiner Frau wegen des Kaufs von Möbeln eines Republikflüchtlings verurteilt wurde; an den Freikauf 1981.

Der „Snobismus“ der West-CDU

Über die Erinnerungen haben sich in den Jahren seit der Übersiedlung von Jürgen Litfin nach Westberlin viele Enttäuschungen gelegt. Litfin, dessen Vater 1945 zu den Mitbegründern der CDU in Berlin gehörte, ist seit 44 Jahren Mitglied bei den Christdemokraten und engagierte sich stets in Ortsverbänden. Doch eine CDU, wie er sie sich im DDR-Gefängnis erträumt hatte – als Rettungsanker und Trost –, hat er bis auf wenige Ausnahmen weder in Westberlin noch später in der wiedervereinigten Stadt gefunden. Als Jürgen Litfin nach seinem Freikauf die CDU bat, ihm, einem Handwerker mit Kranschein und diversen Schweißerpässen, bei der Arbeitssuche behilflich zu sein, wurde ihm mitgeteilt, dass nicht einmal bei der Straßenreinigung was zu finden sei. Jürgen Litfin fand schließlich Arbeit als Sporthallenwart, die er 13 Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung, machte.

Den am Anfang erlebten „Snobismus“ spürt Jürgen Litfin auch bei seinem Kampf um die Aufrechterhaltung der Erinnerungen an seinen Bruder. Als im vergangenen Jahr in Weißensee eine Straße nach Günter Litfin benannt wurde, hätte sich Jürgen Litfin das Porto für die Einladungen an die CDU sparen können: Aus dem Abgeordnetenhaus ließ sich keiner blicken. Auch für die Wiederherstellung des Gedenksteins an seinen Bruder, der Mitte der Neunzigerjahre bei Bauarbeiten am Lehrter Bahnhof unter Bauschutt verschwunden war, machte die CDU keine müde Mark locker. Jürgen Litfin, dessen Frau vor einigen Jahren starb und der von 2.100 Mark Rente lebt, trieb Privatsponsoren auf. Auch der Wiederaufstellung des Steins im Januar dieses Jahres in Sichtweite zu der Stelle, wo sein Bruder erschossen wurde, blieben die eingeladenen CDUler fern. Das ist nicht die „bürgerfreundliche Politik“, wie sie Litfin von seiner Partei erwartet.

Überraschend tauchte hingegen Hagen Koch auf, der ehemalige NVA-Offizier, der einst für Erich Honecker den Mauerverlauf kartografierte und nach 1989 zum Beauftragten des Schutzes der Mauer als Kulturgut avancierte. Dieser überließ Jürgen Litfin den Schlüssel zu der ehemaligen „Führungsstelle“. Koch hatte den Nutzungsvertrag für den Turm von einem Mann bekommen, der dort ein Gartenlokal mit Bratwurst, Bier und Erinnerungstafeln betreiben wollte. Doch dessen plötzlicher Tod vereitelte die Pläne. Hinterlassen hat er eine Zapfanlage und zwei Industriekühlschränke, die Litfin mit Hilfe von Sponsoren abtransportieren ließ.

Jürgen Litfin hat sich mit Hagen Koch, der von ehemaligen Genossen als „Verräter“ beschimpft wird, „ausgesprochen“. Seitdem kämpfen die beiden Männer, deren Biografien unterschiedlicher nicht sein könnten, für die Einrichtung einer Gedenkstätte in der „Führungsstelle“. Jürgen Litfin hat sogar seinen Frieden mit dem System gemacht, das dem Leben seines Bruders ein Ende setzte und ihn selbst schikanierte. „Ich habe dem Verbrecherstaat verziehen, weil ich gesehen habe, wie beschissen der Berliner Senat mich behandelt.“ Nur einem hat er nicht verziehen: dem Mann, dessen Schüsse seinen Bruder töteten. „Das war eine Drecksau, so ein richtiger Mauerkiller aus der Zone, und bestraft wurde er wie ein Eierdieb!“, sagt der ehemalige Handwerker, dessen Aussehen – gepflegtes weißes Haar, halbtransparenter schwarzer Pullover und Brille im Porschedesign – so gar nicht zu seiner Wortwahl passt. Noch heute wurmt es ihn, dass er bei dem Prozess gegen die Grenzer nicht dabei war. „Ich habe mit den Ermittlungsbehörden zusammengearbeitet, und dann hat mir keiner Bescheid gesagt!“

Jürgen Litfin ist zu einem Alleinkämpfer geworden. Einer, der sich verpflichtet fühlt, die Geschichte am Leben zu halten, und der dafür monatlich etwa 300 Mark für Porto und Telefonkosten ausgibt. „188 Türme sind schon weg und 46 Kilometer Mauer“, schimpft er. „Und der Senat will den Turm nicht erhalten!“ Seine Geschichte hat er schon so oft erzählt, dass er leicht ungehalten wird, wenn man dem Affentempo nicht folgen kann. „Hören Sie denn nicht zu?“, poltert er dann los. Er hat 500 Unterschriften im In- und Ausland für den Erhalt der „Führungsstelle“ gesammelt und über ein Dutzend Projektkonzepte ausgearbeitet. Sponsoren für die schätzungsweise 60.000 bis 80.000 Mark teure Instandsetzung des Turms hat er auch schon gefunden. Allesamt Ostfirmen, wie er betont.

Doch das Einzige, was er derzeit hat, ist der Schlüssel zu der Eisentür des Turms. Der Grund: Seit Mitte der Neunzigerjahre steht der Wachturm im Schatten einer Anlage mit Eigentumswohnungen. Und die Besitzerin des Grundstücks, die Bayrische Städtebau GmbH der Doblinger-Gruppe, möchte auch auf den etwa 60 Quadratmetern, auf denen der Turm steht, weitere Eigentumswohnungen bauen. Deshalb hat sie 1998 einen Antrag auf Abriss gestellt. Doch das Bezirksamt Mitte hat diesen mit Verweis auf den Denkmalschutz abgelehnt. Darauf klagte die Eigentümerin vor dem Verwaltungsgericht. Obwohl die Gerichtsentscheidung noch aussteht, steht in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung schon fest: „Der Turm bleibt!“, so eine Sprecherin.

„Alle sind hinter dem Mammon her“

Nur: Die Konditionen dafür sind derzeit völlig unklar: Sollte das Gericht zu dem Schluss kommen, dass es für die Eigentümerin unzumutbar ist, den Turm zu unterhalten bzw. instand zu setzen, könnte die öffentliche Hand für den Unterhalt und die Instandsetzung aufkommen. Doch das ist Wunschdenken. Denn schließlich will die Eigentümerin bauen. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass das klamme Land Berlin das Grundstück erwirbt. Doch dann würde die Eigentümerin nur den Katalogpreis bekommen, ohne Spekulationsgewinn. Denkbar wäre auch, ein Ersatzgrundstück anzubieten.

„Ich will zeigen, dass man mit Privatinitiative das Objekt erhalten kann“, sagt Jürgen Liftin, der bereits die entsprechenden Anträge zur Sanierung gestellt hat. Er kriegt, wie er sagt, „das Kotzen“, wenn er sieht, dass auch die anderen beiden „Führungsstellen“ derzeit geschlossen sind und deren Zukunft ebenso ungewiss ist. „Alle vergessen und sind nur hinter dem Mammon her“, schimpft er. Zumindest er will gegen das Vergessen ankämpfen. Den Schlüssel dazu hat er in der Hand.