Ein Sommer für Eidechsen

So jung kommen sie nicht mehr zusammen: Sabrina, Mario und Bartek haben eine Band gegründet, mit einem Namen, den es schon gibt, und ohne Bassisten. „Die wollen’s wissen“, sagt Till. Ihr erstes Konzert fand in einer Schule für Schwerhörige statt

Irgendwann werden die Konzerte nichts Besonderes mehr für sie sein

von JAN BRANDT

Till Jaspersen, 22 Jahre alt, gibt es erst seit heute. Er fummelt nervös an seinem Instrument herum, dreht an den Knöpfen, zupft an den Saiten und lässt nach ein paar Minuten die Arme sinken. Er findet nicht den richtigen Ton, findet keinen Zugang zur Musik. Und er ist erschöpft. Er spielt in drei Bands Bass, und die neue Gruppe Lounge Lizard probt zweimal die Woche hier draußen im „Musikbunker“, Neukölln, Endstation Hermannstraße.

Die Wände in dem drei mal fünf Meter großen Raum sind mit Schaumstoff verkleidet, eine Doppeltür sorgt dafür, dass kein Laut nach außen dringen kann. Die anderen, Mario Wenzel, Sabrina Müller und Bartek Ziebinski sprechen Till Mut zu, sagen ihm, er solle weiterspielen, das sei für den Anfang schon ganz gut und entspreche genau ihren Vorstellungen. Till schiebt auf einem Ständer die Notenblätter zurecht, wartet auf seinen Einsatz. Bartek sitzt am Schlagzeug, schlägt die Stöcke gegeneinander und gibt den Takt vor. Sabrina streicht mit dem Plektron über die Saiten ihrer Gitarre. Mario steckt die Hände in die Hosentaschen und schließt die Augen, bevor er anfängt zu singen. Nur Till bewegt sich nicht.

Letzten Mittwoch um Mitternacht haben sie ihn kennen gelernt, an der Bushaltestelle, weil er so aussah wie jemand anderes, weil sie ihn verwechselt haben, und dann stellte sich heraus, dass er Bass spielt und sie einen Bassisten suchen. Jetzt steht er hier, an seinem ersten Abend, und weiß selbst nicht, was das soll. Noch eine Band. Mario, Sabrina und Bartek sind fünf Jahre jünger als Till, sie kennen sich von der Schule. Vor ein paar Monaten haben sie Lounge Lizard gegründet, nach einem Proberaum gesucht, dreißig Lieder geschrieben und innerhalb weniger Stunden ihre erste Promo-CD im Studio aufgenommen. „Die wollen’s wissen“, sagt Till, als gehöre er schon nicht mehr dazu.

„Degraded“ heißt die CD, erniedrigt. „In unseren Köpfen schwebt die Idee, ein Album ähnlich zu gestalten wie ein Lexikon“, sagt Mario – ein Lexikon menschlicher Zustandsbeschreibungen, Lieder, die von Liebe handeln, von Gewalt und Tod. Überall beobachte er, wie sich Menschen gegenseitig erniedrigen, beleidigen, Macht ausüben, in der Schule, im Supermarkt, in der Straßenbahn. Also steht er am Mikrofon, die Hände in den Hosentaschen, und singt: „I wanna grow, I wanna breath / But you paralysed me.“

Lounge Lizard wollen groß rauskommen, atmen, ihren Gefühlen freien Lauf lassen und klingen wie ihre Vorbilder Radiohead, Escobar, Belle & Sebastian. Mario hat traurige, düstere Texte geschrieben, voller Sehnsucht nach einem großartigeren, besseren Leben, und Sabrina spielt leichte, schwebende Melodien dazu, die jederzeit umschlagen können in kraftvoll wütendes Schrammeln.

Von einigen Erniedrigungen, die andere in ihrem Alter erdulden müssen, hat sie sich schon befreit: von der Schule und von den gut gemeinten Ratschlägen ihrer Eltern, die wollten, dass sie Abitur macht. Nachdem ihr ein Praktikumsplatz bei einem Berliner Fotografen zugesagt worden war, habe sie nicht eingesehen, warum sie länger zur Schule gehen sollte, und ist einfach zu Hause geblieben. Seitdem jobbt sie ab und zu bei Kaiser’s als Kassiererin und wartet auf den Tag, an dem ihre Ausbildung beginnt. Sieben Stunden in der Woche sitzt sie an der Kasse, zieht Produkte mit Barcode über einen Scanner und sagt den Kunden die Summe an. „Ich hätte den Job schon längst geschmissen“, sagt sie, „wenn ich das Geld nicht bräuchte.“ Es ist nicht viel, aber es reicht, solange sie noch bei ihren Eltern lebt. Und bevor es richtig losgeht mit dem Beruf und dem Erwachsenwerden, mit dem Geldverdienen und dem Angestelltendasein, will sie so viel ausprobieren wie möglich. Im Supermarkt hat sich ein alter Mann in sie verliebt, der dreimal am Tag kommt, um Schokolade zu kaufen. Eine 50-jährige Frau wartet, bis Sabrina an der Kasse sitzt, und beschwert sich dann bei der Filialleitung, weil sie nicht glauben kann, dass alles so teuer ist. Einige Teenager geben ihr Trinkgeld, mehr gibt es nicht zu erzählen, der Rest ist Alltag, kurze Begegnungen mit Menschen, die widerwillig ihre Einkäufe erledigen, kein Wort sagen, bezahlen, abschieben.

Auch Mario arbeitet manchmal im Supermarkt an der Kasse, bei Reichelt, da sei die Bezahlung besser. Er und Bartek wollen das Abitur machen und Till studiert schon, im vierten Semester Wirtschaftswissenschaften an der TU. Till hat die Bassgitarre inzwischen abgenommen, lehnt am Verstärker, lässt die anderen weiter spielen. Er hat das Gefühl, sich entscheiden zu müssen, für oder gegen die Band, die schneller und ehrgeiziger ist als alle Bands, in denen er bisher gespielt hat. Mit manchen hat er über ein Jahr geprobt, ohne auch nur ein einziges Mal öffentlich aufzutreten. Solange wollen Sabrina, Mario und Bartek aber nicht warten und haben schon das erste Konzert von Lounge Lizard organisiert: in einer Woche in der Margarethe von Witzleben-Schule, einer Schule für Schwerhörige. Wie soll er das schaffen? Eine Woche. „Wir fühlen uns bereit, live zu spielen“, sagt Mario, „da sammelt man mehr Erfahrungen als im Proberaum.“

In seinen Texten sucht Mario nach einem großartigeren, besseren Leben

Die Margarethe von Witzleben-Schule ist ein graues Gebäude am Platz der Vereinten Nationen in Mitte, gegenüber steht ein Hochhaus, daneben erstreckt sich der Volkspark Friedrichshain. Das Konzert findet in der Schulaula statt, einem großen Raum mit Parkettimitat, der normalerweise für Aufführungen der Theater-AG genutzt wird. An den Wänden hängen Bleistiftzeichnungen, Bilder, die Hände und Blätter darstellen sollen. Etwa zwanzig Schüler sitzen brav im Halbkreis vor der Bühne auf Stühlen mit orangefarbenem Flokatipolster. Zwei Mädchen verkaufen Apfel- und Orangensaft aus Tetra-Paks. Eine Frau mit einem Security-T-Shirt passt auf, dass kein Alkohol getrunken wird. Sabrina stimmt ihre Gitarre, Bartek trommelt mit den Fingern auf dem Schlagzeug herum, ist immer in Bewegung, kann nicht still sitzen, vor allem jetzt nicht. Mario nimmt einen Schluck Wasser und räuspert sich, gleich geht es los. Es ist 19 Uhr 30, in einer Stunde muss das Konzert vorbei sein, mehr Zeit wollte die Schulleitung den Jugendlichen nicht genehmigen. Till ist nirgends zu sehen. „Er hat sich entschieden“, sagt Mario und meint damit, dass er nicht kommen wird. „Der schafft das absolut nicht“, sagt Sabrina, „Uni, Freundin, drei Bands und Sport, das war zu viel für ihn.“ Und dann hat ihnen gerade auch noch jemand gesagt, dass es in den USA eine Band namens Lounge Lizard gibt, in der der Schauspieler und Musiker John Lurie mitspielt, bekannt aus den Filmen „Down by Law“ und „Stranger than Paradise“ von Jim Jarmusch. Aber auch davon lassen sie sich nicht abschrecken.

Mario schließt die Augen, Bartek schlägt die Stöcke gegeneinander. Als die ersten Takte von „Cold“ erklingen, steckt sich Sabrinas Oma, die am Eingang sitzt, beide Mittelfinger in den Mund und fängt an, laut zu pfeifen. Die Schüler drehen sich nach ihr um, einige lachen, eine alte Frau, die pfeift und jubelt und nach jedem Lied aufspringt, das sind sie nicht gewohnt. Bei „Exile“ versucht Bartek, die Jungs und Mädchen zum Klatschen zu animieren, aber nach der Hälfte des Liedes geben die Meisten wieder auf. Nur Sabrinas Oma klatscht immer weiter, auch dann noch, als das Lied und das Klatschen der anderen längst zu Ende ist. Sie ist 64 Jahre alt und der größte Fan einer Band, die noch Lounge Lizard heißt.

An diesem Abend präsentieren die drei Freunde ihr gesamtes Repertoire, manche Stücke dauern nicht länger als zwei, drei Minuten. Es ist ihr erstes richtiges Konzert, es ist ihre Stunde, in der das Publikum – überwiegend Bekannte und Verwandte – nur ihnen zuhört. Sie stehen auf der Bühne und spielen Lieder, die deutlich Einflüsse ihrer Idole erkennen lassen, die sie aber selbst geschrieben haben, und das gibt ihnen ein gutes Gefühl. So wie es ist, wird es nie mehr sein, das nächste Konzert ist schon das zweite und dann kommt das dritte und irgendwann werden Konzerte nichts Besonderes mehr sein, obwohl die Aufregung bleibt, und die Angst zu versagen. „Wir können nicht so spielen, wie wir wollen“, sagt Mario einmal, „wir haben nämlich keinen Bassisten. Aber egal.“

Er sagt den nächsten Song an, nickt Sabrina und Bartek zu und tut so, als bräuchte er gar keinen Bassisten, keine Monitore oder aufwendige Technik, nur das Scheinwerferlicht, das sich in seiner Brille spiegelt, wenn er nach oben schaut. Steht unsicher am Bühnenrand, regungslos, die Lippen am Mikro. Mit seiner hohen Stimme trifft er immer den richtigen Ton, glaubt an sich und die Zukunft, singt: „It grows and magnifies / A new star is born.“ Als Zugabe spielen sie noch eine Cover-Version von „Smells Like Teen Spirit“, dann ist es halb neun. Zum Abschied sagt Mario: „Lounge Lizard, uns gibt es schon gar nicht mehr. Also, wenn ihr eine Idee habt für einen neuen Namen, sagt uns Bescheid.“ Auf Anhieb fällt niemandem etwas ein. Aber das macht nichts. Die drei machen weiter, planen schon das nächste Konzert, ohne Bassisten, ohne Namen. Was zählt, ist die Musik. Und dass sie zusammen sind.

Lounge Lizard heißen inzwischen Looming Lip. Sie treten morgen, am 8. 8., um 21 Uhr, im Knaack-Club auf