Schulabbruch macht glücklich

Konformitätsdruck und Drill erzeugen in Japan reihenweise Futoko, Schulabbrecher. Die jugendlichen Aussteiger und die Wirtschaftskrise zwingen das Land zu Bildungsreformen. Freie Schulen als Vorbild für mehr Selbständigkeit und „freien Geist“

von ESTHER MAYUMI SCHERER

Als Kenichi Tanaka 13 Jahre alt war, hörte er auf, in die Schule zu gehen. „Schon immer hatte ich es gehasst, dorthin zu müssen“, sagt er heute. „Aber ich dachte damals, das sei ganz normal.“ Irgendwann allerdings musste er sich eingestehen, dass er zu der Sorte Mensch gehört, von der er nur in den Medien gehört hatte: ein „Futoko“, ein Schulabbrecher. Oder wie man das in Japan nennt: ein „armes, bemitleidenswertes“ Kind.

Wie jeder „normale“ japanische Schüler war Tanaka zuvor dem besonderen Stress der japanischen Schule ausgeliefert. Jeden Morgen, von Montag bis Samstag, hatte er seine Schuluniform angezogen. Er lernte das, was man ihm sagte, aß in der Schule zu Mittag und kam frühestens nachmittags um drei nach Hause. Und da waren die Hausaufgaben noch nicht einmal erledigt.

Die „Futoko“, die Schulabbrecher sind ein Phänomen, das in Japan inzwischen immer mehr an Brisanz gewinnt. Zusammen mit „Ijime“ – Mobbing von Schülern durch Mitschüler –, Gewalt an der Schule und „Gakkohokai“ – Unterrichtsblockade durch Schüler – hat es Japans Politiker dazu gebracht, eine Bildungsreform anzugehen. Die veralteten Erziehungsrichtlinien sowie die rigorose Konformität im Bildungssystem sollen mehr Flexibilität und Kreativität Platz machen. Seit Japan sich in der Wirtschaftskrise befindet, Firmen und fast heilig geglaubte Banken pleite gehen, hat man erkannt, dass der bisher übliche Ausbildungsweg nicht mehr unbedingt zum „wahren Glück“ führt. „Wahres Glück“, das bedeutete bislang: sicherer Job, gute Aufstiegsmöglickeiten, stetig ansteigendes Gehalt.

Neuerdings aber reicht es nicht mehr, eine Eliteschule oder -uni anzustreben, um sich einen guten Arbeitsplatz zu sichern. Kurzfristig angehäuftes Wissen und die Bereitschaft, bis zum Umfallen zu Pauken, ist von der Wirtschaft nicht mehr gefragt. „Was die Firmen suchen, sind junge Menschen, die Ideen haben und eine eigene Meinung vertreten“, beschreibt Toshiyuki Shiomi, Dozent an der renommierten Todai-Universität in Tokio, das Umdenken. Eltern und Lehrern fällt es freilich schwer, das neue Erziehungsprinzip zu vermitteln – sie haben selber nie erfahren, was es heißt, selbständig zu denken. Umgekehrt haben die Jugendlichen Probleme, sich für den Besuch ebenjener althergebrachten Schulen und Unis zu motivieren, die ihren Eltern Unselbständigkeit und Konformität einpaukten.

Auch Tanaka wurde von den Mühlen des japanischen Schulsystems aufgerieben. „Unsere Gesellschaft hat ein bestimmtes Bild davon, wie ein Kind sein sollte“, sagt er. „Es muss fröhlich und gesund und in der Schule gut sein. Und es muss sich mit allen seinen Klassenkameraden bestens verstehen.“ Genau das tat Tanaka nicht. „Ich habe mich mit zwei, drei Mitschülern verstanden, aber das war’s. Deswegen bekam ich immer die schlechteste Note in der Kategorie Verhalten“, erklärt er. Was sich nicht gut auf die Aufnahmeprüfung der nächsten Schule, der High School, auswirkte.

Also versuchte Tanaka mitzuspielen. Er freundete sich mit mehr Klassenkameraden an. Er sah sich Serien im Fernsehen an, die ihn nicht interessierten – um Gesprächsstoff zu haben. Sprich: Tanaka passte sein Leben ganz dem Geist der Aufnahmeprüfung an. „Die Inhalte, die uns beigebracht wurden, waren mir völlig egal. Für mich war nur noch die Anerkennung durch Noten wichtig“, erinnert sich Tanaka.

Zu viele Vorschriften

„Die gängige Schule ist nicht mehr attraktiv für die Kinder“, meint Keiko Okuchi, Leiterin der „Tokyo Shure“, der „Freien Schule“ in Tokio. Zu viel werde den jungen Menschen vorgeschrieben, angefangen von Kleidung und Haarschnitt bis hin zum sozialen Verhalten. „Und“, so fügt sie hinzu, „in einer Informationsgesellschaft, wo die Schüler vieles über alle möglichen Quellen erhalten können, ist die Schule schlichtweg langweilig. Alles hat sich verändert – nur die Schule ist die Alte geblieben.“ Fraglich ist nur, ob sich das Bildungssystem tatsächlich durch eine Reform verändern wird. Denn, so sagt Okuchi: „Das Grundgesetz für Bildung ist eigentlich sehr demokratisch und gut.“ Darin werde betont, dass jeder japanische Bürger seine eigene Persönlichkeit entwickeln solle – mit Hilfe von Bildung. Aber dieses Grundgesetz stelle die Politik jetzt in Frage. Auch Toshiyuki Shiomi von der Todai-Uni meint: „Im Grunde müsste man wieder zu der ursprünglichen Idee einer liberalen Erziehung zurückkehren, in deren Mittelpunkt das Individuum steht.“

Keiko Okuchis Tokyo Shure ist aus der Schulabbrecher-Bewegung entstanden. Angefangen hat sie mit nur acht Teilnehmern, mittlerweile verteilen sich die fast 200 Mitglieder auf drei freie Schulen in Tokio. „Shure“ bedeutet etwa „freier Geist“.

Hier sind die Kinder die Hauptdarsteller. Sie errichten in Absprache miteinander ihre eigenen Regeln, gestalten in Teilen ihr eigenes Unterrichtsprogramm und können selbst entscheiden, welches Angebot sie davon wahrnehmen. Sie können beispielweise zwischen Englisch und Erdkunde oder zwischen einer Tanz- oder Computerstunde wählen. Klassen existieren nicht, es gibt lediglich einen Stundenplan für „jüngere Kinder“ und einen für „ältere Kinder“. In „Meetings“ sollen die Kinder lernen, sich zu äußern, Meinungen zu entwickeln und anderen auch zuzuhören. Dazu kommen Projekte, die Ideen der Schüler verfolgen: Eine Gruppe baut selber Heißluftballons. Eine andere organisiert eine Reise nach Korea. „Für die jungen Leute ist die größte Motivation, zu sehen, wie ihre Vorschläge tatsächlich umgesetzt werden. In den gängigen Schulen dagegen ist zu vieles nur Theorie“, sagt Okuchi.

Jeder, der zur Tokyo Shure geht, handelt aus eigenem Antrieb. „Wir wollen zusammenarbeiten. Die Erwachsenen sollen die Kinder unterstützen, nicht bevormunden“, sagt Okuchi. Deswegen gibt es keine Lehrer- und Schüler-Rollen. Die Lehrer lassen sich mit Namen ansprechen und nicht wie in der Norm-Schule mit „Sensei“, zu deutsch: „Herr Lehrer“ oder „Frau Lehrerin“.

Das Prinzip der Tokyo Shure scheint zu funktionieren. Was von außen oft chaotisch aussieht, folgt in Wirklichkeit geordneteren Bahnen als in der normalen Schule. In den Shuren sind Mobbing und Gewalt kein Thema. Die meisten der Shure-Absolventen, sagt sie, kommen mit ihrem Leben zurecht. Einige gingen später zurück an die normale Schule und danach zum Studium. Andere würden über Nebenjobs an Arbeitsplätze kommen oder eine Lehre machen.

In der Regel haben Teilnehmer der freien Schulen zuvor die reguläre Schule abgebrochen. So wie Tanaka, den zu Hause bald Zukunftsängste quälten – auch weil sich seine Familie immer öfter seinetwegen stritt. Er beschloss, zunächst die Tokyo Shure zu besuchen, um nicht nur herumzusitzen.

Keine Schulpflicht

Anders als in Deutschland gibt es in Japan keine Schulpflicht, sondern umgekehrt das Recht auf Bildung. Schulabbruch verstößt also nicht gegen Gesetze. Wer auf die freie Schule will, muss zwischen sechs und achtzehn Jahre alt sein. Die monatliche Gebühr beträgt umgerechnet etwa 750 Mark, genauso viel wie auch eine Abendschule kosten würde. Eine Summe, die entweder die Eltern aufbringen oder die Schüler selbst durch Nebenjobs. In Japan nichts Ungewöhnliches, da man für Bildung hier generell tief in die Tasche greifen muss. Allein die Grundausbildung bis zur neunten Klasse ist an staatlichen und städtischen Schulen kostenlos. Ab der zehnten Klasse (High School) allerdings zahlt man dann mindestens 350 Mark im Monat, an den staatlichen Unis später das Doppelte. Die zusätzlichen „Paukschulen“, die die Kinder auf die Eintrittsprüfungen für High School und Universität vorbereiten, gar nicht mitgerechnet.

Tanaka verbrachte sieben Jahre an der Tokyo Shure. Mitterweile ist er zwanzig Jahre alt und arbeitet als Computerexperte für die freie Schule. Und er ist zufrieden. Was er macht, ist genau das, was er kann und was ihn interessiert. Er ist froh, dass er nicht wie andere Männer seines Alters jeden Morgen in eine „gute“ Firma gehen muss, wo es Pflicht ist, Anzug und Krawatte zu tragen. „Als ich damals zur Tokyo Shure kam“, sagt Tanaka, „sah ich zum ersten Mal, dass es noch andere gibt, die so sind wie ich. Ich merkte, dass ich nicht gestört bin. Hier in der Tokyo Shure gibt es nicht diese Hierarchien. Die Beziehung zwischen den Mitarbeitern und uns ist eine Beziehung zwischen Gleichrangigen.“ Was in einem Land wie Japan, wo Hierarchien penibel beachtet werden, schon fast einer Revolution gleichkommt.