zwischen den rillen: N.E.R.D. retten den HipHop vor der Eindeutigkeit
Das Neptun-Zeitalter
Auf dem Cover: ein junger Mann. Socken, Hausschuhe, Sofa. Das Gamepad fest in beiden Händen, den Highscore im Blick. Der überfälligste Bandname der Welt: der Nerd, der soziologische Terminus zur Dekade der Computermusik. Alles eindeutig, alles klar? Von wegen. „I’m a dirty dog“, flüstert Pharrell Williams in den ersten Sekunden, dann lauter „I’m an outlaw“. Seine Maschinen sagen Funk: Sex, Soul und Körper. Diese Nerds greifen mit dem Mischpult ins Fleisch, und überhaupt steht N.E.R.D. nicht für Nerd, sondern für Noone Really Ever Dies.
Nachhaltige Mehrdeutigkeit kann beides sein: aufregend und abtörnend. Eine Frage der Substanz. Für Williams ist es Wasser – Wasser, das die Elektrizität am besten leitet und aus dem wir alle mehrheitlich bestehen. Im Gegensatz zu den im HipHop immer noch häufig anzutreffenden Five-Percentern, die davon überzeugt sind, dass es einer kleinen (schwarzen) Minderheit bestimmt ist, die Welt zu retten, adressiert Williams, der sich zusammen mit seinem Partner Chad Hugo „The Neptunes“ nennt, die absolute Mehrheit: den menschlichen Wasseranteil.
Die Hautfarbe spielt dabei keine Rolle. Der Sohn gemischter Eltern und sein Puerto-Rico-stämmiger Freund kommen aus einem familiär-sozialen Umfeld, in dem Steely Dan, America und die Eagles auf der gleichen Ebene verhandelt wurden wie die obligatorischen Sly Stone und Earth Wind & Fire. Virginia Beach, 300 Kilometer südlich von New York. Hier, direkt am Atlantik, sind Williams und Hugo aufgewachsen und arbeiten sie heute noch. Sie mussten sich nie wegbewegen, denn die Pop-Welt kam zu ihnen: Terry Riley, der legendären Kopf und Produzent der R&B-Gruppe Blackstreet. Vom Schulband-Wettbewerb direkt in die Charts-Welt, das ist der (amerikanische) Pop-Traum schlechthin.
Mit einem kleinen, modernen Unterschied: Aus der damaligen Gruppe wurden keine singenden oder tanzenden Gesichter in die Profi-Liga überführt – aus Williams, Hugo und ihrem damaligen Mitspieler Tim „Timbaland“ Moseley wurden Produzenten, die neuen Strippenzieher. Wie gut Rileys Gespür war, belegen die US-Charts der letzten vier Jahre, wo Produktionen von Timbaland und den Neptunes allmonatlich obere Positionen belegen.
Und nicht nur der Mainstream, auch der Underground, Rock wie HipHop-Kritik, Amerika und Europa liegen ihnen zu Füßen: Timbaland und die Neptunes – die Lichtgestalten, die Retter des HipHop.
HipHop? Nur ein Teil der produzierten Stimmen – Mystikal, Jay-Z, Ol’ Dirty Bastard, Puff Daddy – sind diesbezüglich eindeutig. Die professionelle Selbstverständlichkeit, mit der auch moderner Rock (Perry Farrell) und Mainstream-Pop (N’Sync) gearbeitet werden, zeigt aber, wie weit sie von Ghetto-romantisierenden „Realness“-Dogmen entfernt sind. Während Timbaland mit Missy Elliott weitgehend Genre-immanent Sounds und Strukturen weiterentwickelt, verließen die Neptunes mit „ihrer“ Künstlerin Kelis die Klammer von Samples, Scratches, Beats und Loops in Richtung Songwriting und Rock. Altbekannte Formate mit vordergründigem Rhythmus sind das – und dennoch klingt die vermeintlich typische Gegenwarts-Radioware progressiv und frisch. In N.E.R.D., dem Debut der Produzenten als Band, werden diese Fähigkeiten nun vollständig ausformuliert.
Dabei vermengen sie neben den Jahrzehnten auch die Kulturen auf eine so selbstverständliche Art, dass tatsächlich etwas Neues entsteht. Die Funktion offensichtlicher Samples ersetzt das Keyboard, Gitarren gibt es in handgezupfter und elektrisch geloopter Version, dabei jedoch so filigran in das klangliche Gesamtbild eingebunden, dass auch dies als eindeutiger Bezug überhaupt nicht taugt.
Soul wird zu Psychedelik, und Funk und Folk bilden einen Kreis. Die entsprechenden Inhalte werden auf texlicher Ebene affirmiert und parodiert – bis hin zu dem zwar gebrochenen, aber dennoch geschmacklichen Tiefpunkt „Tape You“, wo die Nerds ihre sexuellen Gelüste in Form der minutenlangen Aufnahme von Frauenstöhnen zu Tode zelebrieren. „I just wanna tape you all night“ singt Williams, der Audio-Playboy – ein Leben in Sounds.
Der geschmackssichere Minimalismus, die fein gewobene Transparenz der Musik: flüssige Leichtigkeit. Wasser, das Element der Neptunes. N.E.R.D. – die „Dirty Dogs“ und Beach Boys des . . . HipHop. In Ermangelung von Begriffen.
HOLGER IN’T VELD
N.E.R.D.: „In Search of“ (Virgin)
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