Ankunft mit Hoffnung

Vierzehn Kilometer Meer trennen bei Tarifa Europa und Afrika. So nah kommen sich beide Kontinente sonst nirgendwo. Eine scheinbar leicht zu bewältigende Distanz für alle, die in ihrer Heimat keine Zukunft haben. Ein neuralgischer Punkt zugleich für spanische Polizisten, die diese Außengrenze der EU sichern müssen. Und ein Ort, an dem Hoffnungen und Ängste zusammenkommen – letzte Haltestelle vor dem gelobten Land

von REINER WANDLER

„An Léon 410. An Léon 410. Verdächtiger weißer Lieferwagen mit einem Dutzend Nordafrikaner an Bord fährt auf der N 340 in Richtung Cádiz“, kommt kurz vor fünf Uhr morgens eine quäkende Stimme aus dem Funkgerät. „Illegale Einwanderer aus Marokko“, vermuten die Polizisten. Die Routine ist vorbei.

Der Streifenwagen der Guardia civil fährt rechts ran. Beifahrer Miguel Angel setzt hastig sein Barett auf, nimmt die Kelle und springt aus dem Wagen. Wenig später kommt das verdächtige Fahrzeug angebraust. Die Kelle geht hoch. Umsonst. Der Lieferwagen rauscht vorbei, gefolgt von einem Geländewagen mit Blaulicht. „Scheiße“, sagt Miguel Angel. Der hoch gewachsene Polizist springt in die Streife. Fahrer Juan nimmt die Verfolgung auf.

Wenig später ist die rasante Jagd zu Ende. Mehrere Polizeiautos kommen entgegen. Der flüchtige Lieferwagen hält mit einer Vollbremsung auf der Gegenfahrbahn. Ehe die Polizisten reagieren können, springen die Insassen heraus und verschwinden im Dickicht rechts und links der Landstraße. Anstatt ihnen nachzusetzen, schaffen die zehn Polizisten, die mittlerweile eingetroffen sind, den Lieferwagen auf den Standstreifen. „Sonst fährt noch ein Lkw hinein“, sagt einer der Beamten.

Er schüttelt den Kopf und schaut ratlos in die Büsche. Im Schein des Blaulichts bewegen sich überall Schatten. Doch im Lichtkegel der Taschenlampen ist keine Spur der Flüchtigen auszumachen. „Nicht einen Einzigen haben wir erwischt“, machen Juan und Miguel Angel ihrer Enttäuschung Luft. Die beiden patrouillieren Nacht für Nacht auf der Straße von Algeciras nach Cádiz, immer auf der Suche nach illegalen Einwanderern.

Die N 340 läuft an der Meerenge von Gibraltar entlang. Nur vierzehn Kilometer Wasserstraße trennen hier bei Tarifa, dem südlichsten Punkt Spaniens, Europa von Afrika. Die Lichter der marokkanischen Dörfer auf der anderen Seite flimmern in der Gischt. Zweihundert Uniformierte und zivile Streifenpolizisten, fünf mit Nachtsichtgeräten und Radar versehene Boote der Guardia civil und mehrere Hubschrauber beobachten ständig die Südgrenze der Europäischen Union. Dennoch erreichen immer wieder Pateras, kleine Holzboote mit Außenbordmotor, und überdimensionale Schlauchboote, voll besetzt mit Einwanderern, die Küste, an der sich malerische Strände und zerklüftete Klippen abwechseln. „Einmal an Land, verstecken sich die Immigranten ein, zwei Tage in den Wäldern und Bergen, bis sie auf der N 340 aufgesammelt und weitergebracht werden“, erzählt Polizist Juan. In Nächten wie heute macht sich bei dem untersetzten Beamten Mitte vierzig ein Gefühl der Ohnmacht breit.

„Über zweihunderttausend Menschen verlassen jedes Jahr das Land Richtung Europa“, schätzt Abdallah Zaidi. Der Anwalt aus der nordmarokkanischen Stadt Tanger ist der Sprecher des Forums „Deux Rives“ – „zwei Ufer“. Die Nichtregierungsorganisation gründete sich vor einem Jahr, um auf Ursachen und Folgen der illegalen Auswanderung aufmerksam zu machen. „Vor allem junge Menschen haben hier keine Zukunft“, sagt Zaidi und lässt die Zahlen für sich sprechen: Siebzig Prozent der Marokkaner sind unter dreißig Jahre alt.

Jährlich drängen 250.000 neue Arbeitskräfte auf den Markt. Bereits jetzt sind dreißig Prozent der Marokkaner offiziell arbeitslos. Wer einen Job auf dem Bau oder in der Industrie findet, verdient knapp vierhundert Mark monatlich. Eine Lösung der sozialen Probleme ist nicht in Sicht. Schuldendienst und Verwaltung schlucken achtzig Prozent des Staatshaushalts. Für die Programme zur Hebung der Schulbildung und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wie sie der seit vier Jahren regierende Sozialist Abderrahmane Youssoufi immer wieder wortreich ankündigt, ist ganz einfach kein Geld da. Nach einer jüngst bekannt gewordenen Umfrage würden 75 Prozent der Bevölkerung das Land verlassen, wenn sich ihnen die Möglichkeit böte.

„Die Pateras starten entlang der gesamten Küste“, sagt Anwalt Zaidi. Das Geschäft mit der Unzufriedenheit ist für die Mafiabanden längst genauso interessant wie der Drogenhandel. Bis zu dreißig Personen passen in eine Patera aus Holz, um die sechzig in ein Schlauchboot mit Außenbordmotor. Der Markt bietet alles: von der einfachen Überfahrt für 150.000 Dirham – 3.800 Mark – bis zur „Pauschalreise“ im Fischereischiff mit anschließendem Lkw-Transfer an einen festen Zielort in Spanien, Unterkunft und Schwarzarbeitsplatz inklusive, für runde 7.500 Mark. Selbst die Weiterreise bis nach Nordeuropa kann gebucht werden.

Die Mafia vergibt sogar Kredite. Die Reise wird nur angezahlt, der Rest wird ein paar Monate später im Zielland fällig. Wer seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, der wird entführt, bis die Familie zu Hause den Betrag begleicht. In den vergangenen Monaten hat die spanische Polizei mehrmals marokkanische Immigranten ohne Papiere aus den Händen ihrer Landsleute befreit.

In Marokko legen die Pateras ungehindert ab. Die Schmiergelder der Mafia verfehlen ihre Wirkung nicht. Polizei und Armee schauen weg. Aber auch in den beiden spanischen Enklaven an Marokkos Küste, in Ceuta und Melilla, hat sich die Mafia ihre Kontakte erkauft. Hunderte von Einwanderern überwinden immer wieder die Grenze zwischen Marokko und den spanischen Enklaven – und das, obwohl der Zaun und die parallel verlaufende Fahrstraße für die Grenzpolizei mit Wärmedetektoren und Lichtschranken bestückt sind. Einmal in Ceuta und Melilla angekommen, werden sie in unterirdische Verstecke gebracht, bis sie die Mafia auf das spanische Festland weiterschleust.

Trotz strengster Kontrollen der Guardia civil legen die Immigrantenboote auch an den Stränden der beiden Garnisonsstädte ab. Die Überfahrt ins vermeintliche Paradies Europa ist gefährlich. Die Strömungen in der Meerenge sind für die kleinen Boote unberechenbar. Immer wieder werden Leichen an den spanischen und marokkanischen Küsten angeschwemmt. „Bis zu siebenhundert Menschen verlieren jedes Jahr ihr Leben“, schätzt Zaidi. „Das ist wie ein kleiner Krieg.“

Genaue Angaben über die Zahl der Opfer kann keiner machen. Die Familien reden meist nicht. „Die einen aus Angst, ihr Sprössling könnte Illegales gemacht haben, die anderen glauben, dass es sich bei dem Wunsch, auszuwandern, um eine individuelle Entscheidung handelt“, sagt Zaidi.

Vor fünf Jahren? Vor sechs Jahren? Vor acht Jahren? Miki Achahkar kann sich nicht erinnern, wann genau er seinen Sohn verloren hat. Es ist, als wäre damals die Zeit stehen geblieben. „Erst sah ich die Bilder im spanischen Fernsehen, dann bestätigte es einer der Überlebenden“, erzählt der 64-Jährige aus Al-Hoceima, das im Norden Marokkos liegt, mit regungslosem Gesicht. Für Abdasalam, seinen Drittgeborenen, endete die Reise ins gesegnete Europa mit einer Katastrophe.

Das kleine Holzboot kenterte in der Meerenge. Nur vier der 24 Passagiere überlebten diese Passage. „Abdasalam war erst siebzehn Jahre alt und hatte noch das ganze Leben vor sich“, schüttelt der Vater traurig den Kopf. Alle Fotos seines Sohns hat er nach dem Unglück aus der ärmlichen Wohnung im Stadtteil Dar Msaoud entfernt. Er hält den Anblick nicht aus. Allein der Gedanke, dass er seinen Sohn nie beerdigen konnte, dass es keinen Ort gibt, ihn zu beweinen, treibt den Alten zur Verzweiflung.

Abdasalam war ein aufgeweckter Junge. Immer wenn die Jugendlichen im Stadtteil etwas zu feiern hatten, war er mit seiner Gitarre und seinen Berbergesängen dabei. Die Ausbildung an der Matrosenschule für Handelsschifffahrt gleich um die Ecke unten am Hafen von Al-Hoceima beendete er mit guten Noten. Dennoch fand er in Marokko keinen Job. Immer öfter redete er davon, es seinen beiden älteren Brüdern nachzutun. Einer gelangte nach Belgien, der andere nach Holland. „Ich habe immer wieder versucht, ihn davon abzuhalten, in einer Patera nach Europa zu gehen, doch es nützte nichts!“, klagt Vater Miki.

Seine Stimme ist monoton, der Blick starr und stumpf. „Wir waren um Mitternacht in der Nähe von Ceuta losgefahren. Eine Stunde später, mitten auf der Meerenge, wuchsen plötzlich die Wellen“, erinnert sich Hassan. Der heute 28-Jährige ist einer der vier Überlebenden der Tragödie. Noch immer kommt mit der Erinnerung der Schrecken zurück. Ein Brecher von „mindestens dreieinhalb Metern“ erfasste die Patera. „Wir kenterten sofort.“ Drei Stunden trieben die Schiffbrüchigen dort, wo Atlantik und Mittelmeer zusammenfließen. „Wir klammerten uns an das Boot. Das Wasser war kalt. Langsam ließen die Kräfte nach“, erinnert sich Hassan, der zusehen musste, wie einer nach dem anderen nicht mehr konnte und in den schwarzen Fluten verschwand.

Szenen, die sich tief in sein Gedächtnis eingegraben haben. „Irgendwann kamen große Lichter auf uns zu“, beschreibt Hassan das letzte Bild des Films, der seit Jahren immer wieder in seinen Albträumen abläuft. Es war die Expressfähre von Ceuta an die spanische Küste. Hassan wachte im Hospital Punta de Europa in Algeciras wieder auf. Ein paar Tage später wurde er in seine Heimat abgeschoben. Anders als Miki Achahkar erinnert sich Hassan genau an das Datum der Tragödie, die als eine der ersten für Schlagzeilen in Spanien sorgte: „Es war am 12. Mai 1992.“ Erst wenige Monate zuvor hatte Madrid für Marokkaner die Visumpflicht eingeführt. Die Europäische Gemeinschaft hatte es so verlangt.

„Nie wieder würde ich versuchen, in einer Patera überzusetzen“, beteuert Hassan energisch, auch wenn er den Traum von Europa nicht aufgegeben hat. Doch die sicherere Überfahrt auf der Fähre, versteckt in einem Lkw oder, wie Hassans Cousin es gemacht hat, in einem Fischerboot, ist um ein Vielfaches teurer. Und dafür hat der junge Marokkaner nicht das Geld. Eine normale Arbeit ist in Al-Hoceima kaum zu finden. Die Stadt und das umliegende Rif-Gebirge sind von der Außenwelt abgeschnitten. Die einzige Landstraße in die Region der Berberminderheit wird nach den strengen Wintern nur notdürftig ausgebessert. An regelmäßigen Lkw-Verkehr ist kaum zu denken.

Und Touristen kommen trotz der malerischen Buchten auch nicht. Im Rif kennen die Menschen nur zwei Einnahmequellen: das Geld, das die Angehörigen aus Europa schicken, und den Anbau von Cannabis. Die Gegend ist einer der weltweit größten Produzenten dieses Stoffs.

Hassan schlägt sich immer irgendwie durch. Momentan lebt er vom Verkauf geschmuggelter Alkoholika, die bei der hundert Kilometer entfernt liegenden spanischen Enklave an Marokkos Küste, Melilla, über die Grenze kommen. „Seit ich denken kann, muss ich meine Familie ernähren“, erzählt Hassan. Sein Vater ist vor Jahren gestorben. So war es auch die Sorge um seine Mutter und seine drei jüngeren Geschwister, die ihn einst auf die Meerenge hinausgetrieben hat. Was er einnimmt, reicht nur für das Nötigste. Die Familie wohnt zusammengepfercht in einer Einzimmerwohnung in einem Wohnblock außerhalb von Al-Hoceima.

„Längst kommen an der spanischen Südküste nicht mehr nur Marokkaner an“, sagt Sergio. Der junge Mann in blauer Seemannsuniform arbeitet auf dem Schnellboot „Pollux“ der Küstenwache in Tarifa. „Im Winter fahren wir mindestens einmal die Woche raus, um Immigranten aus Seenot zu retten, im Sommer im Schnitt dreimal.“ Neben Marokkanern fischt das orangefarbene Rettungsboot immer häufiger Menschen aus Algerien, aus den Krisenregionen Zentralafrikas, aber auch Kurden, Syrer und selbst Pakistanis und Chinesen aus den Fluten der Meerenge. Die Afrikaner legen den Weg quer durch den Kontinent bis an Marokkos Küste zu Fuß und per Anhalter zurück. Sie sind monatelang unterwegs. Die Menschen aus Asien suchen Flugrouten, auf denen sie keine Visumschwierigkeiten haben. „Manche werden auch mit ihren kleinen Schlauchbooten von Handelsschiffen ausgesetzt, die durch die Meerenge fahren“, weiß Sergio.

Immer öfter alarmieren die Schiffbrüchigen selbst den Rettungsdienst. „Sie rufen mit einem Handy unsere Zentrale an“, berichtet der Mann vom Rettungsdienst. Meist geraten die kleinen Boote in Küstennähe in Seenot. Sie laufen bei der Suche nach einer gut versteckten Anlegestelle auf Felsen auf oder werden von den Wellen, die sich am Ufer brechen, überrascht. Wenn die Besatzung der „Pollux“ zu spät kommt, findet sie niemanden mehr vor. Die Ertrunkenen gehen unter. Die Leichen tauchen – wenn überhaupt – erst nach mehreren Tagen irgendwo am Strand wieder auf. Oft sind sie von den Fischen bis zur Unkenntlichkeit zerfressen.

Auf dem Friedhof von Tarifa zeugen Gräber ohne Namen von denen, die es nicht geschafft haben. Ein Feld ist mit einem Seil abgesteckt. Die Schiffbrüchigen wurden nach islamischem Brauch beigesetzt. Ohne Sarg, im direkten Kontakt mit der Erde, liegen sie in Richtung Mekka. Immer wieder bringen die Einheimischen Blumen zu den Gräbern.

„In meiner Schicht ist uns noch keiner ertrunken“, berichtet Sergio, der seit fünf Jahren beim Rettungsdienst arbeitet. Er beugt sich zum Boden und klopft mit der Faust auf die Holzdielen. „Die Schiffbrüchigen sind völlig durchnässt, unterkühlt und ausgedurstet“, erzählt der hagere, bärtige Mann von Anfang dreißig. Immer öfter kommen auch Hochschwangere oder Frauen mit Babys an. „Die Verzweiflung muss ungeheuer sein. Es ist deprimierend, mit ansehen zu müssen, wie Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen“, seufzt der Rettungsmann.

Einmal an Land, werden die Geborgenen vom Roten Kreuz erwartet. Es versorgt die Menschen mit gespendeter Kleidung. „Die Bevölkerung in Tarifa ist sehr hilfsbereit“, erzählt Sergio. So zogen die Menschen im vergangenen Herbst spontan an den Strand, als die Nachricht von einer gekenterten Patera wie ein Lauffeuer die Runde machte. Viele stürzten sich in die Fluten. „Für drei der schwarzafrikanischen Insassen kam aber jede Hilfe zu spät“, erzählt der Rettungsdienstler sichtlich aufgewühlt. Er drückt eine Zigarette aus und steckt sich sofort eine neue an.

Die Überlebenden wurden auch dieses Mal zum Roten Kreuz im Hafen gebracht. Nach der ersten Hilfe kommt dort für die Einwanderer unweigerlich das eigentliche Ende der Reise. „Die Guardia civil holt die Menschen ab. Viele schauen mich dann an, als wollten sie mir sagen: ‚Hilf mir doch noch mal‘ “, berichtet Sergio mit gedämpfter Stimme.

Polizist Juan klopft mit der flachen Hand auf sein Fernrohr. Der Restlichtverstärker streikt. Erst nachdem er die Batterien mehrmals herausgenommen hat, geht das kleine, grüne Licht neben dem Schalter wieder an. Juan sucht aufmerksam die Wasserstraße vor sich ab. „Nichts“, stellt er schließlich fest. Die Nacht ist zu windig. Die kleinen Boote trauen sich nicht hinaus.

„Manchmal kommen hier fünf, sechs Boote auf einmal“, sagt Juan. „Das ist keine Einwanderung mehr, sondern eine Invasion“, fügt er mit fester Stimme hinzu. Eine mit Schwarzafrikanern besetzte Patera legt meist etwas früher an, die Marokkaner folgen. Der Grund ist einfach: Spanien hat nur mit Marokko ein Rücknahmeabkommen. Die Schwarzafrikaner dienen zur Ablenkung der Polizei. „Wenn sie das Ufer erreichen, laufen sie nicht weg“, berichtet der Polizist. Auf der Wache bekommen sie ein Dokument, das sie auffordert, das Land binnen drei Monaten zu verlassen. Genug Zeit, um in einer der spanischen Städte unterzutauchen oder in ein anderes europäisches Land weiterzuziehen. Anders die Marokkaner: „Werden sie verhaftet, sind sie keine 24 Stunden später wieder in ihrer Heimat“, sagt Juan zufrieden. Oft werden die Immigrantenboote von der Drogenmafia begleitet, die das Durcheinander nutzt, um ihre Ware sicher an Land zu bringen.

Das nächtliche Programm der beiden Polizisten sieht immer gleich aus. Sie fahren entlegene Waldstücke und Scheunen ab. „Wir kennen die üblichen Verstecke der Illegalen“, erklärt Miguel Angel. Wenn sie am Rand der Landstraße eine Mütze, eine leere Flasche oder sonst etwas entdecken, durchstreifen sie mit der Taschenlampe das Dickicht, denn „die Illegalen rufen per Handy ihre Helfer und markieren die Stelle, an der sie sich aufhalten“. Fahrzeuge mit Zulassungen aus anderen Provinzen werden grundsätzlich kontrolliert. „Viele kommen hierher, um gegen gute Bezahlung die Immigranten aufzufischen und weiterzubringen“, sagt Juan.

Wenn einer der Fahrer auf frischer Tat ertappt wird, drohen ihm bis zu 3.800 Mark Geldstrafe und ein Monat Gefängnis wegen „Verstoß gegen die Rechte der Arbeiter“. Auf die Frage, ob es auch solidarische Leute gibt, die helfen, ohne zu kassieren, meint Juan abschätzig: „Der eine oder andere Robin Hood läuft hier sicher herum.“

Noch entwischen der Guardia civil viele der Immigranten, auch wenn die meisten Pateras von den Patrouillenbooten und Hubschraubern gesichtet werden. „Doch bald schon wird die Grenze an der Meerenge hermetisch abgeriegelt sein“, ist sich Juan sicher. Mit Hilfe der Europäischen Union werden drei Wachtürme gebaut. Sie sollen mit modernster Technik ausgestattet werden, um die Boote schon beim Ablegen sichten zu können. „Dann geht uns keiner mehr durch die Maschen“, sagt der Spanier und grinst dabei.

Rosaria Jimenéz ist da anderer Ansicht: „Die Immigranten suchen sich dann neue Routen.“ Die jüngsten Entwicklungen geben der 34-jährigen Frau aus Tarifa Recht. Längst setzen die Pateras auf dem Mittelmeer über oder suchen den Weg von Südmarokko über den Atlantik auf die Kanarischen Inseln. Bis zu 24 Stunden sind sie unterwegs.

Rosaria Jimenéz ist eine der „Robin Hoods“, wie Polizist Juan die solidarischen Spanier nennt. Die burschikose Frau ist Besitzerin des „südlichsten Campingplatzes Europas“. Hier am Strand an der Mündung des Río Jara legen immer wieder Pateras an. Kleidungsstücke in den umliegenden Pinienhainen zeugen davon und die Plastiktüten, in denen, mit Klebeband verschlossen, die Immigranten ihre Habseligkeiten mitbringen. Die Frau mit dem gewinnenden Lächeln hilft, wo sie kann. „Ich halte immer Kleidung parat“, erzählt sie. Wer durchnässt auf den Campingplatz kommt, wird frisch ausgestattet und erhält zumindest ein Frühstück.

Doch damit nicht genug: Rosaria gehört zu „einem Netzwerk solidarischer Menschen, ohne Namen und ohne Gesichter“, wie sie es nennt. Ein loser Kreis, der nicht nur an der Küste agiert, sondern den Illegalen weiterhilft. „Ich frage, wo sie hinwollen. Wenn ich jemanden weiß, der in die Richtung fährt, schicke ich die Immigranten mit“, erzählt Rosaria, die mit vielen, die über ihren Campingplatz kamen, bis heute Kontakt hält. „In Madrid, Barcelona, selbst in Italien, Frankreich oder Holland haben sie sich niedergelassen.“ Die Strafe, die für ihr Tun droht, schreckt sie nicht ab. „Es ist schließlich meine Pflicht, einem Mitmenschen zu helfen“, sagt sie. „Wer fragt schon jemanden, der durchnässt am Strand herumirrt, nach den Papieren?“

Rosaria kommt jeden Tag frühmorgens an den Strand und lässt ihren Blick über die Meerenge schweifen. Die Zahl der Pateras nimmt nach ihren Beobachtungen ständig zu. „Jetzt kommen sie sogar im Winter, wenn das Meer gefährlicher ist“, sagt sie. Es sei leicht vorauszusagen, wer als Nächstes sein Glück an der spanischen Küste suche. „Wer ein bisschen die Presse verfolgt, weiß, wo es in Afrika brennt“, meint sie. Ein paar Wochen später tauchten dann die ersten Flüchtlinge auf.

Ausnahme ist, dass jemand auf dem Campingplatz anklopft. Die meisten Immigranten – vor allem die Marokkaner – springen an Land und rennen los. „Sie haben Angst vor der Guardia civil“, sagt Rosario. Ihre Campinggäste staunen dann nicht schlecht. Der Sprint geht quer zwischen den Wohnwagen und Zelten hindurch. Dann überqueren sie die N 340 und verschwinden in den angrenzenden Bergen. „Die Touristen haben im Allgemeinen keine Ahnung von dem, was sich hier an der Grenze Nacht für Nacht abspielt“, bedauert Rosaria. Nur ab und zu bekommt sie von ihnen Spenden und Kleidung für ihre Hilfsaktionen zugesteckt.

Am längsten war eine Frau aus Sierra Leone auf dem Campingplatz. Sie gebar in der gleichen Nacht im Krankenhaus von Algeciras wie Rosaria. Hochschwanger war sie wenige Stunden zuvor in einem Schlauchboot in Europa, auf dem Kontinent ihrer Hoffnung, angekommen. „Neun Monate lebten Silvia und ihr Sohn Junior bei uns“, erzählt die Campingplatzbesitzerin mit ein bisschen Stolz. Rosaria gelang es sogar, eine Aufenthaltsgenehmigung für ihre schwarzafrikanische Freundin zu erwirken. Jetzt ist Silvia in Madrid, arbeitet bei einer Bekannten von Rosaria und macht eine Ausbildung.

Sie hat Glück gehabt. Dank der Hilfe ihrer spanischen Freundin landete sie nicht in einem unterbezahlten Job als Haushaltshilfe oder gar auf dem Straßenstrich wie viele der Immigrantinnen. Auf über tausend schätzt die Polizei allein in der spanischen Hauptstadt die Zahl der Prostituierten aus Zentralafrika. Auch die männlichen Einwanderer finden nur selten eine vernünftige Arbeit. Sie verdingen sich für einen Hungerlohn als Erntehelfer auf den Plantagen Südspaniens. Meist wohnen sie in Baracken oder selbst gezimmerten Elendshütten – die neuen Proletarier Spaniens.

Die rassistischen Übergriffe in El Ejido vor mehr als einem Jahr machen deutlich, welchen Stellenwert die Einwanderer haben. Die Menschen an der Meerenge von Gibraltar kommentieren jedoch immer wieder voll Abneigung, wie ausländerfeindlich das restliche Spanien sei, und rühmen sich ihrer eigenen offenen Haltung umso mehr.

„Bienvenido inmigrante“ – „Herzlich willkommen, Einwanderer“ – steht in Tarifa und im nahe gelegenen Algeciras an die Wände gesprüht. In jedem größeren Ort gibt es Gruppen, die die Einwanderer über ihre Rechte informieren oder Kleider sammeln. „Hier gibt es keinen Rassismus“, sagt auch Rosaria; dann hält sie inne, überlegt eine Weile und fügt schließlich hinzu: „Eigentlich ist das logisch. Die Immigranten bleiben hier nicht, sie ziehen weiter.“ Niemand muss so mit den neu Zugewanderten um Arbeitsplatz oder Wohnung konkurrieren.

Schichtende bei der Guardia civil in Tarifa: Mehrere Beamte laufen auf dem Hof der Kaserne im Hafen um den weißen Lieferwagen herum, der vor einer Stunde auf der N 340 gestellt wurde. Das Fahrzeug wurde am Abend zuvor in Algeciras gestohlen. Es gehört einem Bäcker.

Die Polizisten sind nach der gescheiterten Aktion schlecht gelaunt. Morgen soll die Tagschicht die Gegend an der Nationalstraße absuchen, so hat es der Chef angeordnet. Juan und Miguel Angel geht das nichts mehr an. Sie haben bis zum Abend um neun Uhr frei. Dann geht es wieder hinaus auf die Suche nach illegalen Einwanderern.

Sichtlich müde sind die beiden Männer der Guardia civil nach der langen Nacht an der Meerenge. Miguel Angel hat nur noch einen Wunsch: „Ich will nach Hause und für ein paar Stunden vergessen, dass hier Menschen für viel Geld ihr Leben aufs Spiel setzen, um nachher für eine Hand voll Groschen ausgebeutet zu werden.“

REINER WANDLER, 39, ist seit 1995 taz-Korrespondent in Spanien und lebt in Madrid