Universale Illusionen

Wer dem freien Markt der internationalen Konzerne misstraut, setzt gern auf den Export der Demokratie oder den Weltstaat. Doch dieses Projekt kann nur im Terror enden

Demokratie setzt eine bürgerliche Mittelklasse voraus, die Steuern zahlt, und eine gute Verwaltung

Nach dem Ende der großen welthistorischen Erzählungen sind nur noch zwei Kurzgeschichten in Umlauf. Die eine trägt den Titel „Globalisierung“ und schildert, wie die Finanzzentren zusammenrücken, wie Bilder und Nachrichten durch den Äther huschen und die Kultur von Sony und Coca-Cola die Sinne der Menschheit besetzt. Die andere Geschichte erzählt von Chaos und Anarchie, von Wasserknappheit und Malaria, von Überbevölkerung und Bürgerkrieg.

Die erste spielt in New York, London, Singapur und Budapest, die zweite in Freetown, Kabul oder Grosny. Die Helden der ersten Geschichte sind die smarten Börsenmakler, Diplomaten und Experten mit Handy, Laptop und Designer-Outfit, die alles in globaler Perspektive betrachten, also von oben herab. Sie kreisen um den Erdball, übernachten in Luxushotels und glauben, dass alle Welt Englisch spricht und nichts anderes zu tun hat, als Nachrichten, Güter und Ideale auszutauschen. Das Personal der zweiten Geschichte setzt sich zusammen aus arbeitslosen Slumbewohnern, aidskranken Müttern, hungrigen Kindersoldaten und bewaffneten Marodeuren. In ihrer Welt ist das Leben armselig und kurz.

Zwischen beiden Geschichten gibt es kaum eine Verbindung. Beide Welten haben nichts gemeinsam. Alles Gerede vom „globalen Dorf“, von der „Einheit der Weltgesellschaft“ kaschiert nur diesen Riss, welcher den Erdball durchzieht. Dieser Graben spaltet nicht nur die Kontinente, sondern auch viele Metropolen. Die Begüterten verbarrikadieren sich hinter Elektrozäunen, die Habenichtse fristen ihr Dasein in Wellblechhütten oder auf Müllkippen. Damit sie nicht in die Oberwelt eindringen, patroullieren Hunderttausende Wächter an den Grenzen. In den USA gibt es bereits mehr private Sicherheitsdiener als Soldaten.

Auf die Spaltung der Welt reagieren die Bewohner der Wohlstandsinseln mit Ignoranz, Idealismus oder Imperialismus. Wer dem freien Markt der internationalen Konzerne misstraut, setzt auf den Export der Demokratie. Als sei das westliche Modell der Elitenherrschaft schon deshalb funktionsfähig, weil es universale Prinzipien zu verkörpern scheint. In Wahrheit setzt Demokatie eine Bevölkerung voraus, die lesen und schreiben kann, eine bürgerliche Mittelklasse, welche die Steuern zahlt, eine funktionierende Verwaltung – und die Befriedung des Bürgerkriegs. Fehlen diese Voraussetzungen, vertieft ein Mehrparteiensystem nur die sozialen Gegensätze. Allgemeine Wahlen verschaffen – wie in Armenien oder Aserbeidschan – Massenloyalität für nationalistische Kriegstreiber, Parteien dienen als Maskerade für ethnische Aufmärsche, und die Forderung nach einer Koalitionsregierung kann – wie in Ruanda – die Vorbereitungen für einen Völkermord beschleunigen. Fern davon, den Bürgerkrieg in ein Wortgefecht zu überführen, bleibt der Staat machtlos und korrupt. Die alte Patronage durch lokale Autoritäten, die wenigstens eine gewisse Ordnung garantiert hatten, wird ausgehöhlt und von zentralen Machtcliquen überformt.

Von den alten Ideologien hat nur die liberale Friedensutopie die Wechselfälle der jüngsten Kriegsgeschichte überdauert. Unverdrossen glaubt sie noch immer an die Fähigkeit der Menschen, die Fesseln der Geschichte abstreifen und durch vernünftige Abkommen einen friedvollen Bund der Völker und Staaten schließen zu können. Doch ist auch in etablierten Demokratien die öffentliche Meinung keineswegs immer friedfertig. Mitnichten ist die demokratische Herrschaft ein Schutzwall gegen den Krieg. Torheit, Beutegier und Expansionsgelüste können Volksversammlungen ebenso befallen wie Könige, Tyrannen oder Generäle. Selbstbestimmung im Namen der Nation kann einhergehen mit dem Ausschluss von Minderheiten. Der freie Austausch von Ideen und Gütern provoziert Gegenmaßnahmen der Abwehr, Zensur und Protektion, da globaler Wettbewerb oftmals zu lokalem Ruin führt.

Versagt die demokratische Illusion, sucht der Idealismus Zuflucht im Großprojekt Weltstaat. Er soll den Erdball befrieden, die Menschheit mit der Natur versöhnen und jedermann Wohlstand bringen. Doch bislang werden die Institutionen der Vereinten Nationen beherrscht von einer unheiligen Allianz westlicher Bürokraten mit Eliten aus der Dritten Welt, die in ihren Ländern oft auf fragwürdige Weise zu Geld und Prestige gekommen sind. Zur Weltregierung fehlen der UN Macht und Glaubwürdigkeit. Ihre Interventionen enden mangels politischer und militärischer Schlagkraft nicht selten in einem Desaster.

Die westlichen Gesellschaften sind kaum bereit, die Opfer aufzubringen, welche für ein Gleichgewicht der Kräfte oder für die Schirmherrschaft eines Staatenbundes notwendig sind. Vielerorts ist militärische Macht nicht nur für die Errichtung, sondern auch für die Erhaltung des Friedens unerlässlich. Solange Demokratien diesen Preis nicht bezahlen wollen und ihre Streitkräfte zu Polizeitruppen degradieren, bleiben die Tage des Friedens gezählt.

Die Chancen der Pazifizierung schwinden mit der Missdeutung der neuen Kriege. In den zahllosen Kleinkriegen ist die Gewalt kein Instrument der Politik oder Ökonomie. Dem Marodeur ist der Krieg eine Lebensform. Er plündert, drangsaliert die ansässige Bevölkerung, verjagt oder tötet die Unerwünschten. Er ernährt sich vom Krieg, und daher ist sein Interesse am Frieden gering. Nur um den Preis des völligen Realitätsverlustes kann man weiterhin von kosmopolitischer Eintracht träumen. Die Rache verkettet die Generationen und überdauert die Zwischenzeiten der friedlichen Koexistenz, bis sich der Terror erneut an den Nachbarn austoben wird. Die Überlebenden, die irgendwann in ihre Dörfer zurückkehren, dürften nur wenig Neigung verspüren, sich mit ihren Todfeinden zu vertragen und sich auf die verordnete Harmonie verpflichten zu lassen, die man sich in sicherer Entfernung ausgedacht hat, um sich die eigenen Illusionen vom weltumfassenden Leviathan bewahren zu können.

Die Rache verkettet die Generationen und überdauert die Zwischenzeiten der friedlichen Koexistenz

Aber selbst wenn die Errichtung des Weltstaates tatsächlich Realität würde, es wäre ein Albtraum. Der globale Staat müsste sich, wie jeder Staat, auf eine gewaltige Agentur der Repression stützen. Ohne einen gigantischen Militär- und Polizeiapparat wäre der befristete Waffenstillstand nicht zu haben. Auch die globale Herrschaft unterliegt der gewaltsamen Logik jeder Ordnungsmacht. Der Staat, dieser sterbliche Gott, dämmt die Gewalt nur ein, indem er jedermann mit Gewalt bedroht.

Schlimmer noch: Der Weltstaat, dieses grandiose Projekt allumfassender Gleichartigkeit, wird, einmal in Gang gesetzt, keinen freien Winkel dulden. Wie jedes Imperium wird er gegründet sein auf zahllosen Opfern. Heerscharen von Exekutoren wird er in seinen Dienst stellen, um sein Regime zu sichern. Und er wird jede Grenze aufheben, über die Menschen noch einen Ausweg in ein sicheres Exil finden könnten. Wer dem Weltstaat entkommen möchte, dem bliebe als Fluchtort nur noch der Mond.

WOLFGANG SOFSKY