Für einen Tag sind die Opfer wieder gefragt

Die Berliner CDU will das Mauerjubiläum nutzen, um den SPD-Bürgermeister Wowereit wegen seiner Zusammenarbeit mit der PDS in Verlegenheit zu bringen. An den offiziellen Gedenkfeiern des Senats wollen sich die Verbände der Verfolgten nicht beteiligen

Es ist die Stunde der Opfer: Menschen, die Familie und Freunde an der Mauer verloren haben, Menschen, die in der DDR gelitten haben. Diese Menschen, deren alte Geschichten eigentlich zehn Jahre nach dem Fall der Mauer niemand mehr hören möchte, sind plötzlich in Berlin zu gefragten Personen geworden. Denn sie haben ein seltenes Gut anzubieten: moralische Autorität. Und die ist gefragt bei den Parteien in der ehemals geteilten Stadt, die am 21. Oktober neu wählt.

Klaus Wowereit, Regierender Bürgermeister, braucht sie besonders. Denn der Sozialdemokrat hat sich mit Stimmen der PDS wählen lassen. Zur Strafe wollen ihn die Opferverbände am 13. August allein gedenken lassen. „Wir nehmen nicht an der offiziellen Veranstaltung des Senats teil, wenn dort Vertreter der PDS anwesend sind“, beschreibt Harald Strunz, Sprecher der Ständigen Konferenz der Verfolgtenverbände, die einheitliche Haltung der sehr kleinteilig organisierten Opfergemeinschaft. Wie der Senat und die Bundesregierung wollen auch die Verfolgten am 13. August einen Kranz an der Gedenkstätte in der Bernauer Straße niederlegen – aber nicht gemeinsam, sondern demonstrativ eine Stunde früher.

Wie ernst Klaus Wowereit diese Geste der Ablehnung gegenüber seiner Zusammenarbeit mit der PDS nimmt, zeigt seine Reaktion. Der Regierende traf sich persönlich mit den Opfervertretern. „Er bemühte sich in geradezu rührender Weise um uns“, sagt ein Teilnehmer der Runde. Selbst der Berliner PDS-Fraktionschef, Harald Wolf, versuchte, die Opfervertreter telefonisch umzustimmen.

Den Knoten durchschlagen

Gestern hat Wowereit „doch noch den Knoten durchschlagen“, wie es ein Sprecher nannte: Heinz Gerull, Vorsitzender des Kurt-Schumacher-Kreises, hat sich nach langem Zögern doch noch bereit gefunden, am Gedenken im Roten Rathaus teilzunehmen und selbst eine Rede zu halten. Der 81-jährige Gerull war in der NS-Zeit Gestapohäftling und bekämpfte nach dem Krieg die junge DDR von Westberlin aus. Im Ostteil der Stadt inhaftiert, wurde er zu Zwangsarbeit im sowjetischenWorkuta verurteilt und kehrte erst nach sechs Jahren Haft zurück. Sein Kurt-Schumacher-Kreis besteht aus ehemaligen Sozialdemokraten, die aus Protest gegen die Ostpolitik die SPD verließen. Nun erspart Gerull dieser Partei die Blöße, ganz ohne Opferverbände an den Bau der Mauer erinnern zu müssen.

Solche Sorgen hat die Union nicht. Zum Kaffee mit Angela Merkel am Nachmittag des 13. August kommen die Verfolgtenverbände gerne. Die CDU versucht das Mauerjubiläum zu nutzen, um die Berliner SPD in Verlegenheit zu bringen.

Die erste Attacke kam aus Brandenburg: Der dortige Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) und sein Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD), beide keine Freunde rot-roter Planspiele, ordneten für den 13. August Halbmastbeflaggung an allen öffentlichen Gebäuden an. Dies war in Berlin nicht vorgesehen. Wowereits Senat zog widerwillig nach. Einen Bürgermeister, der am Christopher Street Day die Regenbogenfahnen hissen lässt, zum Mauerjubiläum aber leere Masten präsentiert, hat man der Union nicht als Wahlkampfmunition bieten wollen.

Die Berliner Union ruft zu ihrer heutigen Kundgebung, an der auch Angela Merkel und Edmund Stoiber teilnehmen, mit einem aggressiv gestalteten Plakat auf. Es zeigt einen Soldaten der NVA und einen Arbeiter beim Bau der Mauer. Diese historische Szene an der Bernauer Straße ist überschrieben mit: „Nie wieder. Der Schulterschluss von SPD und PDS ist nicht nur ein Verrat an der Vergangenheit, sondern auch an der Zukunft.“

Die Absicht der Union, die aktuelle Kooperation von SPD und PDS mit dem Mauerbau in Zusammenhang zu bringen, ist auch innerparteilich umstritten. Plakat und Kundgebung dienten vor allem der Mobilisierung der eigenen Basis, erklärt Joachim Zeller, Generalsekretär der Berliner CDU und Bürgermeister des ehemaligen Ostbezirks Mitte: „Im Westen wird diese Art Zuspitzung mehr geschätzt als im Osten.“ROBIN ALEXANDER