Götter spielen Luftgitarre

Matthias Merkle zeigt „Kleists Amphytrion in concert“ als klassisches Erbe und Rock ’n’ Roll, Pathos und Popkultur

Wir spüren es, wissen es – und doch wollen wir es nicht wahrhaben. Das sich selbst denkende „Ich“, das uns als Anker der Einmaligkeit dient angesichts der bedrohlichen Vielfalt der Erscheinungen, dieses „Ich“ gibt es nicht. Es existiert lediglich als Gedankenkonstrukt, und findet seinen berühmten Ausdruck in der cartesianischen These des „Cogito Ergo Sum“.

Wie gefährlich und grotesk ein allzu starker Glauben an das Ich sein kann, erzählt der „Amphytrion“-Mythos. Da wird ein Fürst durch Götterlist genarrt, mit seinem Double konfrontiert, und seine Gattin betrügt ihn. Nichts ist mehr sicher, Theben steht Kopf und Ehen gehen fast kaputt. Molière machte aus dem antiken Stoff eine rasante Beziehungskomödie, die weltliche Autoritäten, Selbstgewissheit und den ewigen Geschlechterkampf aufs Korn nimmt. In einer eigenwilligen Inszenierung des „Dramatischen Theaters“ ist die deutsche Fassung von Kleist nun vor denkwürdiger Berliner Kulisse zu sehen. Auf der Museumsinsel, im Ehrenhof des Pergamonmuseums, versucht man sich in Genremix und spielt „Kleists Amphytrion in concert“. Wie der Titel vermuten lässt, geht es um klassisches Erbe und Rock ’n’ Roll, um Pathos und Popkultur.

Regisseur Matthias Merkle kündigt ein „ultimatives Sprechtheater Open-Air“ an, das den anstrengenden Kleist’schen Text in voller Länge präsentiert und mit „zeitgemäßen“ Darbietungsformen kombiniert. Seine Bühne ist die eines Rockkonzertes, auf der sich die Schauspieler in den Posen von Robbie Williams, Madonna und Alice Cooper bewegen. Ihnen fehlt die Gitarre in der Hand, und singen dürfen sie auch nicht, dafür intonieren sie das klassische Versmaß am Mikrophon und tanzen manchmal wie eine Boygroup. An den Seiten stehen Monitore, die Videos zeigen. In den Szenenwechseln läuft AC/DC vom Band. Will man dem Text, der gebundenen Poesiesprache Kleists, folgen und ihre komische Brillanz entdecken, so muss man ganz genau hinhören. Und die laut Programmheft „unverkrampfte Atmosphäre“ eines Rock-Open-Airs, bei dem man hin und her läuft, trinkt, redet und Drogen nimmt, kann nicht aufkommen, weil man sich zu sehr konzentrieren muss. Also sitzt das Publikum auf Holzbänken oder Plastikstühlen und schaut zu, wie Sosias, der Diener des Fürsten und Feldherrn Amphytrion, sich selbst begegnet. Georg Ansas Otto im karierten Fantasieschottenrock redet die Situation zwischen Sosias und dem Götterboten Hermes, der seine Gestalt angenommen hat und ihn prügelnd in die Flucht schlägt, mit ganzer Kraft herbei. Das ist amüsant. Als Jupiter in Gestalt des noch in der Schlacht weilenden Amphytrions (Christian Schulz) die Gemächer seiner Gattin Alkmene aufsucht, um mit ihr die Freuden des Fleisches zu feiern, sieht man zwei nackte Darsteller, die sich in Laken winden und Text ins Mikro sprechen. Am Tag darauf kehrt der echte Amphytrion nach Theben zurück und hört von seiner Gattin (beeindruckend lasziv, später wütend: Saskia Taeger), er wäre in der Nacht schon da gewesen. Nun ist die Verwirrung groß, und man bezichtigt sich des gegenseitigen Verrats. Sosias hat sich den Zorn seiner temperamentvollen Frau Charis (Tatjana Opitz mit eindrucksvoll physischer Textbeherrschung) zugezogen.

Die Grenze zwischen „echt“ und „falsch“ ist durch das Auftauchen der göttlichen Doppelgänger verwischt. Nur Zeus himself kann Licht ins Dunkel bringen. Da wird dann wieder alles gut und zum Schluss spielen beide Paare glücklich vereint Luftgitarre vor dem Pergamonmuseum. Die Monitore leuchten grün. Die Museen indes schweigen.

JANA SITTNICK

Weitere Vorstellungen: bis 1. 9., jeweils Do, Fr, Sa, 20.30 Uhr