Zwanzig Jahre Blutgrätsche

Am 14. August 1981 wurde der Friedensstürmer Ewald Lienen von einem Gegenspieler aufgeschlitzt. Angeblich auf Anweisung des Trainers Otto Rehhagel. Ein Fußballskandal

Beim Rückspiel ein halbes Jahr später trug der Werder-Trainer eine schusssichere Bleiweste

Gottja! Diese Aufregung! Was die Fernsehkameras eingefangen hatten, und dann das Zeitungsfoto: Ewald Lienen, Prinz Eisenherz von der DKP-Friedensliste, der behindertenfreundliche Linksaußen, unser aller Ewald auf der Trage, eine klaffende Wunde am Oberschenkel – aufgeschlitzt von den dunklen Mächten des Kapitalismus. Der notorische Gutmensch gefällt von einem ligaberüchtigten tumben Klopper. Pfui! Und noch mal Pfui!! Gottja, wie aufgeregt wir damals doch waren! Heute genau vor 20 Jahren. Als sich Linkshaberei mit dem gesunden Volksempfinden vereinte, als konkret und Bild zusammen marschierten – und man am liebsten das Land verlassen hätte.

Für die Jüngeren unter uns: Am 14. August 1981 spielt Arminia Bielefeld bei Werder Bremen. Bei einem Angriff der Bielefelder rumpeln der Bremer Verteidiger Norbert Siegmann und der Bielefelder Stürmer Ewald Lienen ineinander. Lienens rechter Oberschenkel wird auf 30 Zentimeter Länge aufgeschlitzt. Und Lienen beschuldigt Otto Rehhagel: Das Foul sei vorsätzliche Körperverletzung gewesen, befohlen vom Bremer Trainer. „Pack ihn dir!“, soll Rehhagel dem Spieler Siegmann zugerufen haben. Zeugen: drei Bielefelder Bankdrücker.

Bild druckte das Foto vom aufgeschlitzten Oberschenkel in Handtuchgröße. Und von links bis rechts, vom intellektuellen Freund des Fußballsports bis zum letzten Blödfan war die Sache klar. Dabei kann beim schlechtesten Willen von einem vorsätzlichen Foul keine Rede sein. Nach Studium der Videobilder – vorwärts, rückwärts, Zeitlupe – wird eins deutlich: Siegmann wirft sich dem Spieler und dem Ball entgegen. Im allerletzten Moment erst spitzelt Lienen den Ball vorbei und wird getroffen. So ein Foul passiert hundertmal am Spieltag – die Verletzung war halt spektakulär.

Doch das Urteil war längst gesprochen. Da konnte Rehhagel noch so vehement dementieren: „Wir haben nie, in keiner Weise daran gedacht, den Herrn Lienen vorsätzlich zu verletzen. Das war wirklich ein Zweikampf um den Ball.“ Und Siegmann konnte noch so lieb um Verzeihung bitten: „Lieber Ewald“, schrieb er ins Lazarett, „darf ich Dir meine aufrichtigste Entschuldigung für den bedauerlichen Vorfall darbieten, der sich zwischen Dir und mir ereignet hat.“ Liebe Briefe bekam auch Werder Bremen: „Warnung! Sollte am Samstag in München einer Ihrer Bundesligaspieler und Trainer Rehhagel wieder verrückt spielen, wie Siegmann, der Mörder gegen Ewald Lienen, dann werden wir diesen Spieler zusammen mit Rehhagel an einen Baum in München knüpfen.“

Beim nächsten Spiel blieb Siegmann zu Hause, Rehhagel stand unter Polizeischutz, und seine Familie quartierte sich vorsichtshalber beim Werder-Vizepräsidenten Fischer ein. Ein halbes Jahr später beim Rückspiel in Bielefeld trug der Werder-Trainer eine schusssichere Bleiweste. Da hatte das DFB-Sportgericht die Bremer längst freigesprochen. Die bombenfesten Bielefelder Zeugen konnten sich doch nicht mehr so recht erinnern. Lienen selbst stand eh schon drei Wochen nach dem Foul wieder auf dem Platz. So eine einfache Fleischwunde verheilt eben schnell. Schneller als die Empörung. Im April 1982 gab Lienen dem Playboy ein Interview. „Ein offenes Gespräch mit dem Mann, der über die Brutalität in der Bundesliga auspackt.“ Und das liest sich heute noch ganz unterhaltsam: „Werner Lorant von Eintracht Frankfurt – er gehört für mich nicht in die Bundesliga! Ich habe es zweimal erlebt, wie er – ohne jeden Grund – über den Platz gerannt ist und gebrüllt hat, so laut, dass es auch der Schiedsrichter hätte hören müssen: ‚Jetzt hol’ ich mir einen! Lass mir den da hinten!‘“

Der angebliche Attentäter Norbert Siegmann beendete 1984 seine Profi-Karriere, verkaufte danach Versicherungen und war kurzzeitig Sanyassin in Poona. Mit Fußball hat er inzwischen nichts mehr zu tun.

Lienen dagegen wurde Trainer. Und fiel in der vergangenen Saison durch einen spiegelverkehrten Miniskandal auf. Am 24. Februar 2001 spielt sein 1. FC Köln bei den Bayern. Plötzlich stürmt Stefan Effenberg wutentbrannt auf Lienen zu. Der sollte einen Kölner aufgefordert haben, Effenberg „wegzuhauen“. Lienen erklärte wortreich, er habe den Ball gemeint. „Alles klar, die Sache ist ausgeräumt“, meinte Effenberg. Denn ist ja alles gut. JOCHEN GRABLER