Vorwärts und vergessen

Antonia Grunenberg diagnostiziert bei den Deutschen eine „Lust an der Schuld“. Das ist wirklich schlimm. Daher schlägt sie eine einfache Therapie vor: Endlich den Nationalsozialismus historisieren und sich der Zukunft befreit zuwenden.

von MARTIN ALTMEYER

Kennt man diese Klage über die Geschichtsvergessenheit der Deutschen nicht? Die These von der Verengung des historischen Gedächtnisses auf Auschwitz, das nicht nur zur negativen Gründungslegende der Bundesrepublik geworden ist, sondern auch zum Prisma, durch das die deutsche Geschichte zurück bis ins Mittelalter betrachtet wird – haben wir diesen Vorwurf nicht gerade von dem Literaturwissenschaftler Karl-Heinz Bohrer gehört? Hat nicht Martin Walser wiederholt beklagt: Die Deutschen hätten durch die Dauerreflexion über den Holocaust sich einen Schuldkomplex erworben, der schwer auf der nationalen Zukunft laste? Und hat nicht auch Peter Sloterdijk bei seiner Verteidigung der gentechnologischen Utopie in der Kritischen Theorie Frankfurter Provenienz und vor allem bei Jürgen Habermas jenes jakobinische Tugendwächtertum enttarnt, das uns daran hindere, der Zukunft „befreit entgegenzudenken“?

Bei der Lektüre von Antonia Grunenbergs neuem Buch stellt sich schnell eine Ahnung ein, die sich leider bald zur Gewissheit verdichtet: Die neue Behauptung von der kollektiven „Lust an der Schuld“ soll die gängige Zeitdiagnose einer nationalen Identitätsstörung stützen, die im Trauma der faschistischen Barbarei ursächlich ihren Kern habe. Diese scheinbar neue „Lust“ ist eng verwandt mit der älteren eines „moralischen Masochismus“, mit der sie den Rückgriff auf psychoanalytisches Denken teilt. Grunenbergs aktueller Therapievorschlag für die selbstbewusste Berliner Republik: Auschwitz als universelle Metapher für den nationalsozialistischen Zivilisationsbruch müsse nach einem halben Jahrhundert aus dem Zentrum des deutschen Geschichtsbewusstseins entfernt, der Nationalsozialismus endlich historisiert werden. Ihre politisch inkorrekte These, die sie schon in früheren Büchern („Antifaschismus – ein deutscher Mythos“ 1993, „Der Schlaf der Freiheit“ 1997) bereits skizziert hat, kündigt die Autorin im Vorwort bescheiden als Beitrag zu einem besseren Verständnis des 20. Jahrhunderts an.

In jenem Beitrag wird zunächst der zentrale politische „Schuld-Komplex“ beschrieben und dann in seiner komplexen historischen Genese gedeutet: aus der Vorgeschichte des Nationalsozialismus als späte Erbschaft des Ersten Weltkriegs übernommen, verbunden mit der Frage nach Kriegsschuld, Kriegsschulden und Reparationszahlungen; im geteilten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg aufgespalten in eine (westliche) Praxis des psychohygienisch motivierten Beschweigens und eine (östliche) Linie der antikapitalistischen Projektion der Schuld auf den Klassenfeind; im Rahmen des Frankfurter Auschwitzprozesses als Trauma zur Sprache und Verhandlung gebracht, aber als Vorwurf der rebellierenden Nachkriegskinder an ihre Nazi-Eltern schließlich in ein überhistorisches Täter-Opfer-Schema verwoben und fixiert; verstärkt auch durch die Weigerung der Nachbarländer Deutschlands, für den Faschismus im Zentrum der alten Welt eine Mitverantwortung zu konzedieren, und durch ihren Hang, die eigene Schuld weitgehend aus dem nationalen Gedächtnis zu tilgen, wie an der Bedeutung von (verdrängter) Kollaboration und (heroisiertem) Widerstand in Frankreich demonstriert. Im Einleitungs- wie im Schlusskapitel entwickelt die Grunenberg ihre suggestive Aufforderung: Der Genozid an den Juden sei Geschichte, die deutsche Schuld hinreichend gesühnt und die fortdauernde „Lust an der Schuld“ durch die Lust an der Demokratie zu ersetzen.

Die Autorin nimmt immer wieder Bezug auf die Totalitarismustheorien von Hannah Arendt und François Furet, die ihr als Kronzeugen für eine relativierende Historisierung der nationalsozialistischen Verbrechen gelten. Dem stehe ein mächtiges linkes Denkverbot entgegen, formuliert im Historikerstreit um Ernst Noltes These, der Faschismus sei nur als Reaktion auf den Kommunismus verständlich. Eine vergleichende Betrachtung totalitärer Herrschaft sei seitdem unter Ideologieverdacht gestellt. Der notorische „Bekenntniszwang“ hat demnach die Rolle eines „moralischen Imperativs“ übernommen, unter dem Geschichtsschreibung auf die „Vor- und Nachgeschichte von Auschwitz“ verengt und die Nation auf die „Rolle des ehemaligen Bösewichts“ festgelegt wird. Schuld sei aber nur einem persönlichen Verhalten zuzuordnen. Als politische Kategorie angewandt, so wird Max Weber zitiert, führt sie Sieger und Besiegte lediglich dazu, eine rückwärtsgewandte Politik zu betreiben.

Der anhaltende öffentliche „Schulddiskurs“ ist für Grunenberg fatalerweise dem psychoanalytischen Prozess nachgebildet, der das Verdrängte in die Freudsche Trias von „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ zwinge und dadurch zu bannen sucht. Da aber die Nachgeborenen weder Erinnerungen haben noch Schuld für etwas verspüren könnten, für das sie keine persönliche Verantwortung tragen, müsse Auschwitz zu einem überhistorischen Ereignis erklärt werden, das als Metapher für das „erhabene Böse“ ein ewiges Stigma, eine identitätsstiftende Wunde im imaginären Nationalkörper bedeute. Die Ergebenheit in diese schicksalhafte Vorstellung ist so gesehen nicht weit entfernt vom manichäischen Weltbild des Nationalsozialismus selbst.

Diese Sicht der Dinge, mit einiger Redundanz von einer intelligenten Autorin vorgetragen, ist nicht ganz falsch. Sie lässt aber theoretisch keinen Raum für eine über die Generationenfolge tradierte historische Erfahrung, die als Scham – nicht als Schuld – zugleich auf einen besseren Zukunftsentwurf verweist. Ein solches kollektives Ich-Ideal ex negativo hat mit jenem von einem totalitären Über-Ich gespeisten Exorzismus nichts zu tun, den Antonia Grunenberg im hypermoralischen Furor der RAF erkennt und der heute bloß noch im militanten Antifaschismus der autonomen Szene überdauert.

Ein republikanisches Gemeinwesen kann auf die Erinnerung an eine Zeit nicht verzichten, in der die Unterscheidung zwischen Über- und Untermenschen, zwischen wertem und unwertem Leben, zwischen Arier und Nicht-Arier zur Grundausstattung der gesellschaftlichen Moral gehörte. Mit „Lust an der Schuld“ hat das wenig zu tun. Die Historisierung von Auschwitz braucht stärkere Argumente, aber mit der Rehabilitation von Hannah Arendt ist der richtige Weg beschritten.

Antonia Grunenberg: „Die Lust an der Schuld. Von der Macht der Vergangenheit über die Gegenwart“, 224 Seiten, Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2001, 39,90 DM (19,90 €)