Schuldige, grenzenlose Abscheu und gefangene Tiere

■ Meilenstein des italienischen Neorealismus: Luchino Viscontis Debütfilm Ossessione im Metropolis

In der Po-Ebene liegt die Landschaft vor einem wie das Meer – allerdings ohne jede Verheißung von Ferne und Exotik. Die endlosen, geraden Straßen verengen sich am Horizont in einem winzigen Punkt, und man mag kaum daran glauben, dass man an ihrem Ende an ein Ziel kommen könnte. Im Nirgendwo, an einer dieser Straßen befindet sich die Trattoria, in die Luchino Visconti die Geschichte aus James M. Cains Roman The Postman Always Rings Twice für seine Adaption Ossessione verlegt hat. Gino, ein junger Wanderarbeiter, kehrt dort ein und verliebt sich in Giovanna, die Frau des Wirts. Für sie bedeutet er die Befreiung von ihrem verhassten Mann, auch sie verliebt sich. Gemeinsam fliehen sie, aber Giovanna merkt schnell, dass das Leben auf der Straße nichts für sie ist, und kehrt um. Als sie sich später zufällig wiedertreffen, beschließen sie, Giovannas Mann umzubringen und den Mord als Autounfall zu tarnen.

Aber Gino fühlt sich im sesshaften Leben wie ein gefangenes Tier. Er trinkt, um seine Schuldgefühle zu vergessen, und beginnt, Giovanna zu verabscheuen. Als er erfährt, dass sie schwanger ist, lebt seine Liebe noch einmal auf, und sie beschließen, woanders ein neues Leben anzufangen. Doch die Polizei ist ihnen auf der Spur. Es kommt zu einem Unfall.

Die italienischen Faschisten gaben Visconti für seinen Debütfilm von 1942 die Drehgenehmigung. Sie glaubten, der Film handle davon, dass sich Verbrechen nicht lohnt. Das Ergebnis hat sie überrascht. „Das ist nicht Italien!“ soll Vittorio Mussolini, Sohn des „Duce“ und Herausgeber der Zeitung Cinema, nach der Uraufführung gerufen haben. Aber genau das schien Italien zu sein. Als Assistent bei Jean Renoir hatte Visconti gelernt, außerhalb des Studios zu drehen, und das intellektuelle Publikum war begeistert. In der Auseinandersetzung um Ossessione wurde der Ausdruck „Neorealismus“ geprägt. Aber nicht nur die Kulisse verbürgt den Realismus, auch die Figuren haben keine ungebrochene, glänzende Oberfläche. Sie sind zerrissen von Zweifeln und scheitern nicht am Schicksal, sondern an sich selbst. Armut und Abhängigkeit bestimmen das Leben. Giovanna hatte nur geheiratet, um von der Straße wegzukommen, und sie und Gino stehen vor der Wahl zwischen Wohlstand in Unfreiheit oder Freiheit in Armut. Eine ausweglose Situation treibt sie ins Verbrechen und ins Unglück, ähnlich wie sechs Jahre später bei Vittorio De Sica, dessen Fahrraddiebe den italienischen Neorealismus weltberühmt machen sollte. Ossessione wurde von der Zensur schließlich auf 40 Minuten gekürzt, das Negativ verschwand auf ungeklärte Weise. Zum Glück gab es ein Duplikat des Negativs, so dass man sich den Film im Metropolis in voller Länge ansehen kann. Dirk Schneider

heute, So, Mo + Mi, 17 Uhr, Metropolis