Ein ganz natürlicher Vorgang

Und eines Tages steht man dann im Aufzug vor dem merkwürdigen Vater, den man vorher noch nie gesehen hat. In der Vorlesung über kognitive Linguistik sitzen schöne Frauen, die man irgendwie ansprechen muss, und demnächst wird sich das Leben sowieso ändern. Eine Kurzgeschichte

von JAN BRANDT

Ich war 21, als ich Vater zum ersten Mal begegnete. Ich hatte mich gerade an der Universität in Köln eingeschrieben. Wir fuhren im Fahrstuhl vom zweiten in den vierten Stock. Sein Haar war leicht ergraut, er trug eine Brille und war korrekt gekleidet. Für sein Alter war er sehr schlank. Er sah mich die ganze Zeit an, als erinnerte ich ihn an jemanden. Mutter hatte mir nie ein Foto von ihm gezeigt, sie sagte, sie habe keines. Aber als er da im Fahrstuhl neben mir stand, wusste ich, dass er es war.

Ich war neu in der Stadt, mein erster Tag an der Uni. Ein graues, klobiges Gebäude aus Beton. Die Luft war stickig. Ich wollte raus. Aber anstatt nach unten zu fahren, fuhr ich mit Vater nach oben. Die Fahrt war endlos. Ich spürte seinen strengen Blick. Seinen Augen, so hieß es, entgehe nichts. Über ihn wurde viel gesprochen in den ersten Tagen. Bei ihm solle man sich besser nicht prüfen lassen. Vater lege Wert auf eine präzise Artikulation und umfangreiches Fachwissen. Eines sei ihm verhasst: wenn man nichts zu sagen wisse.

Als Vater ausstieg, drehte er sich noch einmal nach mir um und schüttelte den Kopf. „Nicht einmal guten Tag oder auf Wiedersehen“, sagte er. Dann gingen die Türen zu, und ich fuhr wieder nach unten. Vater bot mittwochs eine Vorlesung zu dem Thema „Einführung in die Sprachwissenschaft Teil I“ an. Sie fand im großen Hörsaal statt, der bis auf den letzten Platz gefüllt war. Vater war beliebt. Er besaß eine Gabe, die vielen Professoren fehlt: Vater konnte komplizierte Sachverhalte einfach erklären, was besonders auf einem so abstrakten Gebiet wie der Sprachwissenschaft von großem Nutzen ist.

Er stand vorne, wie immer ordentlich gekleidet. Seine Krawatte saß perfekt, Hemd und Hose waren gebügelt. Obwohl er nicht mehr der Jüngste war, hatte er noch volles Haar. Ich kannte Studentinnen, die ihn verehrten und sich jedes Semester um eine Hilfsstelle bewarben. Er hatte Groupies, die längst nicht mehr zur Uni gingen, Gasthörerinnen, Seniorenstudentinnen sogar.

Vor mir in der Reihe saßen zwei Männer älteren Semesters, die die Bild-Zeitung lasen und sich über das nackte Mädchen auf der Titelseite unterhielten. Sie saßen in der vorletzten Reihe, zwischen ihnen und Vater lagen etwa vierzig Meter. Sie lachten leise und flüsterten hinter vorgehaltener Hand. Vater diskutierte gerade mit einem japanischen Austauschstudenten über das Wort „no“, das im Japanischen, je nach Aussprache, einmal zur Nominalisierung und einmal zur Kennzeichnung bestimmter Fragesätze benutzt wird.

„No“, sagte Vater, und der Japaner schüttelte den Kopf. „Nein, no“, sagte er. Vater versuchte es wieder: „No.“ Dabei machte er eine wellenartige Handbewegung. Aber wieder lag er falsch. „No“, sagte der Japaner. Vater hatte seinen Meister gefunden, und er wollte nicht lockerlassen. „No“, sagte er. „No, no, no.“

Wie er es auch sagte, er fand nicht die richtige Betonung. Erst hatten noch einige gelacht, dann war es langweilig geworden. „Der steigert sich da wieder in was hinein“, sagte jemand neben mir. Und als Vater merkte, dass ihm keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde, rief er: „Sie da, in der vorletzten Reihe. Nehmen Sie Ihre Zeitung, und gehen Sie bitte nach Hause. Ich bin auch nicht zum Vergnügen hier, sondern muss mich in diese Materie erst einarbeiten.“

Die beiden gingen nicht, sondern steckten die Zeitung weg und entschuldigten sich. Ich war erstaunt über Vaters gute Augen und fand ihn trotz seiner Strenge sehr unterhaltsam. Vielleicht, weil ich bisher nicht selbst von seinen Maßnahmen betroffen war. Die Vorlesung interessierte mich eigentlich nicht. Alles, was Vater zu sagen hatte, hatte er aufgeschrieben, in einem leicht verständlichen Buch, das ich mir aus der Unibibliothek auslieh.

Ich ging nur noch zur Vorlesung, um Vater zu sehen und wegen Christiane. Eine unglaublich gut aussehende Frau. Ich weiß, das hat nichts mit Linguistik zu tun, sondern mit Biologie. Der Sohn will zum Vater werden. Ein ganz natürlicher Vorgang. Gerade die einfachsten Dinge im Leben fielen mir damals oft sehr schwer. Ich wollte Christiane ansprechen, aber ich wusste nicht, wie. Ich versuchte, mich immer in ihre Nähe zu setzen, um auf mich aufmerksam zu machen, aber meist war sie von Freundinnen umringt. Einmal, ich saß wieder in der letzten Reihe und las in einem Roman, Vater hatte eben noch über das Verhältnis von Sprache und Gehirn geredet, da wurde es still im Raum. Und es blieb still, bis ich aufschaute aus meinem Buch, das auf dem kleinen Klapptisch lag, und sah, dass alle mich ansahen. Vater stand vorne im Schatten eines Overheadprojektors, die Hände in die Seiten gestützt.

„Sie glauben wohl, ich merke das nicht.“ Ich konnte nicht fassen, dass er mich meinte, und sah mich um. Dann zeigte ich mit dem Finger auf mich, und Vater sagte: „Ja, Sie mit dem Roman. Den können Sie auch zu Hause lesen. Wer hierher kommt, hat mir zuzuhören.“ Ich nickte und legte das Buch weg. Vater sprach von kognitiver Linguistik, und ich verstand kein Wort. Ich war rot und immer noch wie gelähmt. Immerhin hatte mich Christiane bemerkt. Nach der Vorlesung verabredeten wir uns in einer Kneipe. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus, und ein paar Tage später lud ich sie zu einer Party ein.

Es war an einem Dienstag. Ich trank ziemlich schnell, und ich redete auch ziemlich schnell und viel, um meine Nervosität zu überspielen. Ich erzählte von meinen Eltern, davon, dass Mutter mir einmal zwei Spiegel geschickt hatte, die ich unter meinem Bett anbringen sollte, weil eine Wahrsagerin ihr erzählt hatte, das würde die Wasserader unter meinem Zimmer neutralisieren. Christiane sagte, dass sie mit ihren Eltern keine Probleme habe. Ihr Vater sei Künstler und lasse ihr viele Freiheiten. Er arbeite als Zeichner und Illustrator. Nur manchmal störe es sie, dass er sie immer ins rechte Licht rücken müsse. Besonders beim Frühstück hasste sie es, wenn er ihren Kopf nahm und in eine bestimmte Pose drehte. Das konnte ich gut verstehen. Ich sagte: „Im Grunde ist das auch nichts anderes.“ Und suchte nach Gemeinsamkeiten. Immer, wenn ich vom Klo zurückkam, unterhielt sie sich mit jemand anderem. Dann wurde es ihr zu langweilig, und sie wollte gehen.

Für den Rückweg nahm ich mir noch eine Flasche Bier mit. Ich wollte sie nach Hause bringen, aber sie sagte: „Besser nicht.“ Als ich zwei Stationen später völlig betrunken aus der Bahn stieg, stand Vater vor mir. „Kommen Sie nicht zu spät zur Vorlesung“, sagte er und stieg ein. Ich war völlig fertig. Es war, als ob er auf mich gewartet hätte.

Natürlich verschlief ich am nächsten Morgen. Sobald ich aufwachte, bekam ich einen Adrenalinstoß, zog mich an und fuhr zur Uni. Der Hörsaal hat eine ungünstige Konstruktion für Leute, die zu spät kommen und sich unbemerkt einschleichen wollen. Der Eingang befindet sich unmittelbar hinter dem Pult des Professors. Ich öffnete die Tür, lief durch einen kleinen Gang, und in dem Moment, als die Tür mit einem Knall zufiel, stand ich direkt neben ihm. Vater, der eben noch gesprochen hatte, verstummte und nahm seine Brille ab. Ich wollte höflich sein, erinnerte mich an das, was er im Fahrstuhl zu mir gesagt hatte, und sagte: „Guten Tag!“ Er aber sagte: „Das ist ja eine Unverschämtheit.“ Vätern kann man es eben nie recht machen.

Später musste ich ihm eine Stunde lang assistieren, einige beneideten mich darum. Sie hörten nicht, dass er bei allem, was ich machte, seufzte. In seiner Sprechstunde bot er mir Kaffee an, ich lehnte ab. „Wissen Sie, was Ihr Problem ist?“, fragte er und gab selbst die Antwort, „Sie sind unzufrieden mit sich selbst.“ Mir kam das alles sehr bekannt vor. Am Schluss sagte er: „Sie sollten Ihr Leben ändern.“ Das tat ich. Ich zog nach Berlin und wechselte die Universität. Aber es änderte nichts. Manchmal glaube ich, es ist alles noch schlimmer geworden. Neulich musste ich ein Referat über Psycholinguistik halten und ertappte mich dabei, wie ich um Aufmerksamkeit bat. Ein Junge legte widerwillig ein Buch weg, das er gerade erst angefangen hatte. In dem Moment sah ich mich selbst dort sitzen. Jetzt habe ich Angst, so zu werden wie Vater, Prof. Dr. Heinz Vater. Die ersten grauen Haare habe ich auch schon. Dabei sind wir nicht einmal verwandt.