Hip Priest

Gestern noch ein Experiment, heute schon recht konventionell: „Before and After: The Fall“, eine Inszenierung des britischen Choreografen Michael Clark im Hebbel-Theater

Michael Clark war früher Punk. Das steht im Pressematerial und im Programmheft, und das ist auch an dem Song erkennbar, der Clarks Uraufführung im Hebbel-Theater eröffnet. Musik von The Fall läuft vom Band, und man hört Mark E. Smith nuscheln. „Everything experimental is now conventional“ wiederholt er wie ein nihilistisches Mantra.

Dazu sieht man aus dem Bühnendunkel einen nackten Hintern leuchten. Der Hintern wird zur Frau, die sich mit den hastigen Akkordwechseln der Rockmusik arrangiert. Stakkatomäßig tanzt die klassisch Geschulte dem harten Beat hinterher, in pinkfarbenen Pantalons und blauem Body, ihr bloßgestellter Körper zappelt wie der eines Stehaufmännchens, bemüht, den Anschluss nicht zu verpassen. Auf dem Kopf trägt sie eine schwarze Nietenlederkappe, das erinnert an die schwülstige Ästhetik der 80s-Popband Frankie goes to Hollywood. Wem diese Verhässlichung dienen soll, bleibt unklar.

„Before and After: The Fall“ nennt der britische Choreograf Michael Clark sein aktuelles Stück, das älteres Material aus der Punk-Phase in variierter, weiterentwickelter Form zeigt. Clark, 1962 im schottischen Aberdeen als Bauernsohn geboren, tanzte mit dreizehn Jahren an der „Royal Ballett School“ in London, die er mit siebzehn wieder verließ. Er wurde zum Punk, und „performte“ auf Vernissagen realen Analsex. Er benutzte den kodifizierten klassischen Tanz, um ihn in seinen düsteren Choreografien gegen den Strich zu inszenieren. Ab 1984 tourte Clark mit seiner eigenen Kompanie durch Europa, produzierte gemeinsam mit The Fall ein Musical und kooperierte mit Avantgarde-Modedesignern wie Body Map und Leigh Bowery.

Der im Vorfeld viel Gepriesene mit der märchenhaften Biografie konnte künstlerisch leider nicht überraschen. Wer in den Achtzigern als „Enfant terrible“ der englischen Tanzszene galt, muss 2001 noch lange kein explosives Angebot machen, mit dem er das Festival-Publikum um den Verstand hätte bringen können. Der Ex-Punk gönnt sich eine nostalgische Tanzhommage an die eigene Vergangenheit. Für sein aktuelles Stück benutzt er die Songs als dramaturgisches Fundament, auf das er separate Tanzsequenzen stellt. Ohne narratives Element erscheinen die Bilder, in denen androgyne Pärchen sich am Hintern tätscheln oder in Plateauschuhen Spitze tanzen, junge Mädchen in Internatskostümen Ballettposen üben oder in Gruppe hüpfen. Die Musik dröhnt und scheppert in einem fort und zwingt der Bewegung ihre Drei-Minuten-Songstruktur auf. Das wirkt zuweilen eingezwängt und unerlöst, zumal Clark sich einer dem klassischen Ballett verpflichteten Bewegungssprache bedient und das Weich-Fließende zugunsten des Scharf-Präzisen, Maschinenartigen reduziert. Augenfällig ist die aggressive choreografische Behandlung des Körperlichen – die Tänzer dürfen nie zur Ruhe kommen, verharren, harmonisch sein. Immer bläst da wer zum Sturm, die Knarzer von The Fall oder PIL, dann gibt es Gruppendynamik mit Begrabschen, so als wäre alles Sexuelle ausbeuterisch.

Passend dazu fahren die Masturbationsobjekte von Sarah Lucas auf die Bühne. Lucas, berühmte Vertreterin der „Young British Artists“, steuerte ihren vielfach variierten „Wichserarm“ aus Glasfiber bei, der mit eindeutiger Handbewegung die typisch „männliche“ Aktion simuliert. Provokant ist das nicht. Die nihilistische Geste des Punk hat sich selbst kassiert und trotz aller Remix-Versuche als Sujet ausgedient, ebenso das Sexuelle als Schlachtfeld der Geschlechter. Irritierend ist, dass hinter dem formalen Ausdruck keine Idee sichtbar wird.

Oder Clark ist in höchstem Maße selbstironisch: Mit der Aussage des Anfangssongs, der das vermeintlich Besondere als normal entlarvt, hat er sich dann vielleicht selbst gemeint.

JANA SITTNICK