Klangfarben zu Konsummustern

Die Musikindustrie ist in der Krise, verbreitet aber Aufbruchsstimmung, Wiglaf Droste findet, dass die Alten die besseren Popproduzenten sind, und die erste authentische Jägermeister-Band ist auch mit dabei: Eindrücke von der Popkomm in Köln

von GERRIT BARTELS
und JENNI ZYLKA

I. Brandneue Welt

Gäbe es auf der Popkomm einen Preis für den schönsten und aussagekräftigsten Ausstellungsstand, er wäre in diesem Jahr der Plattenfirma Delta Music verliehen worden: Fünf wuchtige, zwei Meter hohe und mit zahlreichen CDs bestückte Eisblöcke zieren den Delta-Music-Stand und schmelzen langsam vor sich hin – ein Bild mit nicht wenig Symbolcharakter für Popkomm und Musikindustrie. So sind 2001 erstmals weniger Teilnehmer auf der Popkomm als im Vorjahr, vor allem die vielen Dotcom-Pleiten führten dazu, dass sich in den Messehallen rund hundert Aussteller weniger tummeln; und so beklagt die deutsche Musikindustrie wortreich einen CD-Umsatzrückgang von 12,6 Prozent und macht dafür ausschließlich das private Brennen von CDs verantwortlich.

Als Mischung aus Krise und Aufbruch lässt sich die Stimmung demnach beschreiben, die auf der diesjährigen Popkomm in Reden, Interviews und auf den Podien vorherrscht; eine Stimmung, die zusätzlich geprägt wird von einer reichlich ungefähren Zukunft: Wie werden die Onlinedienste MusicNet und Pressplay (eine Neugründung von Universal und Sony) einschlagen? Ist der Konsument wirklich bereit, wie es immer wieder heißt, für Musik zu zahlen, die er woanders umsonst bekommt? Was ist mit den Urheberrechten, wann schafft die Politik effektive Rahmenbedingungen für ihren Schutz? Werden 2001 und 2002 noch mehr CDs gebrannt und noch weniger verkauft werden? Ist es wirklich die CD-Brennerei, die für den Umsatzrückgang verantwortlich ist? Könnte es nicht einfach ein mieses Jahr sein oder an zu hohen CD-Preisen liegen? Fragen, Klagen, aber immer wieder auch der Ausblick in eine glorreiche, möglicherweise ertragreiche Zukunft, immer wieder das Beschwören der Möglichkeiten des Internets, der neuen Technologien und überhaupt.

Am eindrucksvollsten performt das der Vivendi-Universal-Chef Jean Marie Messier in seiner Key Note. Braun gebrannt und in ein hoffnungsfroh rosafarbenes Hemd gewandet, sagt er in einer Stunde, was er auch in zehn Minuten hätte sagen können: Wir brauchen technische Lösungen, wir brauchen Rechtsschutz, wir sind gut, kreativ und professionell, wir sind groß, wir sind die Größten, wir meistern die Zukunft. Die Gemeinde dankt es ihm mit warmem Beifall. Um so viel Differenziertheit und Aufbruchsstimmung auch musikalisch abzurunden, widmet Messier seinen Jüngern noch ein Lied: Stings „Brand New World“.

II. Der neue Trend

Pop kommt in die Jahre. Das merkt man nicht unbedingt in den Ausstellungshallen, und dort schon gar nicht an den Ständen von Viva und MTV, wo unentwegt viele gut aussehende junge Leute chillen, loungen und Wodka-Red-Bull-Mixturen trinken; das weiß aber zum Beispiel Nordrhein-Westfalens Kulturminister Michael Vesper, der in seiner Eröffnungsrede messerscharf analysiert: „Popkultur ist längst nicht mehr nur Jugendkultur, da braucht man sich ja nur im Auditorium umzuschauen.“ Aber auch einer wie Wiglaf Droste weiß auf dem Panel über die Popliteratur: „Es hilft, alt zu sein, um Pop zu schreiben.“ Woraufhin er die Namen der Leute droppt, die auf diesem Podium zu droppen er sich anscheinend fest vorgenommen hat. Jörg Schröder, „der auch heute noch Popliteratur schreibt“, Jörg Fauser („Die tägliche Scheiße des Lebens muss jeden Tag neu breit getreten werden“), Franz Dobler und schließlich Johnny Cash, „alles andere ist mir dann Wurscht“.

Nicht ganz, denn Droste bemüht sich auch um Polarisation. In Richtung der Kiwi-Lektorin Kerstin Gleba gewandt, schilt er den Kiwi-Verlag dafür, den Begriff Popliteratur aufgeblasen zu haben und sich nun wieder davon distanzieren zu wollen, und auch die Berliner Lesebühnen „Heim&Welt“ oder „Reformbühne“ bekommen ihr Fett weg: „subkulturell angestrichene Varianten der Neuen Mitte“. Drostes Sticheleien aber verdampfen leider nur allzu schnell. Keiner will sich streiten, alle sind sich einig, und die eine bestimmte Popliteratur gibt es sowieso nicht.

Drostes These von den Alten als den besseren Popproduzenten fand dann aber abends beim „Introducing“-Festival im E-Werk durch den Auftritt von Louie Austen durchaus seine Bestätigung. Der 55-Jährige machte es mit seinen gleich drei Auftritten den jungen Kollegen nicht leicht: als Philip-Marlowe-Follower im zugeknöpften Trenchcoat, als Frank-Sinatra-Coverboy im schwarzen Anzug und als Barry-Manilow-Epigone. Das war großes, souveränes Entertaining! Da reichte die französische Band Phoenix mit ihrem ruhigen, ausgeschlafenen und direkt in das Herz der Siebziger weisenden Auftritt nicht ganz ran. Und auch nicht Blumfelds Jochen Distelmeyer, der in seinem weißen Hemd und seiner prima Jeanslatzhose einen Flavor von Waltons (19. Jahrhundert), Atomkraft, nein danke (80er-Jahre) und Globalisierung, nein danke (Nullerjahre) verbreitete.

III. Hand an Handy

Wie kann das sein, dass man den ganzen Tag in sein Telefon schreit und doch einsam ist? Auf der Messe, während der Panels, abends bei den Konzerten: das Handy ist da und auch nicht da. Denn entweder hört man das Klingeln nicht, oder es ist ohnehin ausgeschaltet. Noch nie wurden vermutlich so viele Mailboxen auf einmal abgehört und so schnell wieder besprochen. Denn der andere ist ja auch nicht blöd und hat sein Handy mitgenommen, damit „man sich später zusammenrufen kann“.

Andererseits: Dieses totale Nichtfunktionieren der Kommunikationsmittel hat auch zur Folge, dass man schön altmodisch vom Zufall abhängig ist und einfach in die Leute rennen muss, die man kennt, anstatt sich zu verabreden und zu verpassen.

Außerdem sind die Menschen, die man zufällig trifft, ja eh die beliebteren: Unverhofft kommt oft. Beim Hamburger Institutionen-Abend, bei dem vor allem Superpunk toll waren, nämlich superpunk, und man ansonsten stets das Gefühl hatte, man würde Pärchen trennen, wenn man sich durch in Hitze und Enge aneinander geschweißte Menschenmassen quetschte, da beeindruckte vor allem eine blonde Frau mit einem genialen Kommunikationstrick: Sie ließ „aus Versehen“ einen Batzen bunter Visitenkarten auf den Boden plumpsen, wie bei „32 heb auf“. An einer prominenten Stelle, versteht sich. Jeder ließ sofort alle Flyer fallen, steckte das Handy weg und beugte sich neugierig nach den Kärtchen, in der Hoffnung, die seien bestimmt privat und nicht für ihn bestimmt. Aber den besten Trick 17 zum Get together kennen die vielen Anbieter auf den Messen dieser Welt schon länger, und er funktioniert noch immer wie geschmiert: Würstchen und Bier.

IV. Jägermeister

Früher trank man Jägermeister, weil die Tochter gerade geheiratet hatte oder das Auto am Samstag in der Garage wieder so schön glänzte. Heute trinkt man Jägermeister, weil es cool ist und Spaß macht. Deswegen ist Jägermeister auf der Popkomm mit einem Stand vertreten, deswegen kümmert sich Jägermeister nicht nur um sich und sein Image, sondern auch um junge Bands. „Jägermeister macht Spaß, Musik macht Spaß, da haben wir uns gedacht: Warum sollen wir das nicht zusammenbringen?“ Ganz einfach alles, wenn man Jägermeister-PR-Chefin Fiona Gray bei der Vorstellung des „Jägermeister Band Supports“ so zuhört. Und Uwe Deese von der beratenden Marketing-Firma megacult ergänzt: „Wir stehen auf Bands, die Jägermeister mögen, und möchten dabei sein, wenn Kreativität Hilfe braucht.“ Auch die Koblenzer Band Blackmail als erster „authentischer Vertreter“ des Förderkonzepts mag Jägermeister, freut sich über den von Jägermeister gestellten Bandbus und findet das alles gut. Rock ’n’ Roll ist alles, was ein Jägermeister ist. Jägermeister ist Rock – nicht Techno oder HipHop und schon gar nicht Volksmusik, ganz wichtig!

Die ideale Firma trifft die ideale Klangfarbe und damit den idealen Konsumenten. Am falschen Ort, wer hier etwa mit Naomi Klein oder Frédéric Beigbeder kommen wollte (auch dass Globalisierungsgegner den MTV-Stand stürmen wollten, entpuppt sich auf der Popkomm als ein haltloses, wenn auch gern erzähltes Gerücht). Markenterror? I wo!, die Förderung zeitgenösssicher Rockbands! Vielleicht werden Blackmail mal so groß, dass sie auch in Stadien spielen: Die authentische Jägermeisterband spielt im AOL-Stadion auf der New Yorker Bühne Jägermeister-Lieder.

V. Der Alleswisser

Man sollte selbst einmal ein Panel auf der Popkomm vorbereiten mit dem Thema: Wozu eigentlich Panels auf der Popkomm? Dazu geladen werden dann selbstverständlich nur Männer (weil es offensichtlich keine Frauen gibt im Musikbusiness, die hüpfen, wie jeder weiß, normalerweise vom PR-Maus-Status direkt ins Labelchefbettchen). Wenn das jetzt etwas bitter klingt, dann liegt das daran, dass es interessante Panels nicht gerade viele gab. Bei der „Yankee go home!“-Diskussion schmissen sich kleine und große Labelmacher gegenseitig Strategien zur besseren Vermarktung von nichtamerikanischer und nichtbritischer Musik an den Kopf, statt darüber zu reden, warum und ob englischsprachige Musik in den deutschen Charts nicht mehr einen so hohen Stellenwert hat wie vor ein paar Jahren und ob das gut oder schlecht oder einfach nur normal ist.

Bei „Raus aus der Oper – rein in die Clubs“ sagte jemand den wunderschönen Satz: „Ich bin ein Klassik-DJ“, aber was erwartet man von einem solchen Panel schon? Immerhin war Smudo nicht dabei. Smudo, das konnte man dieses Jahr ganz eindeutig feststellen, hat in Wirklichkeit nämlich sieben eineiige Zwillingsbrüder und kann darum überall gleichzeitig auf den Panels sitzen und preachen und sich interviewen lassen. Natürlich ist Smudo immer noch mindestens drei Zacken interessanter als der landläufige selbstgefällige Musikbusinessheinz. Bei „Ist es geil, ein Arschloch zu sein?“ floss mehr als ein Bonmot aus dem Stuttgarter Rapmündchen: DJ Ötzi und seine Freunde seien für ihn so eine Art „ganzjährige Karnevalsmusik“ und überhaupt seien schließlich die Labels mit ihren skrupellosen A&Rs schuld an dem Dilemma. Smudo, erklär uns die Welt, bitte!

VI. Böse Musik

Einmal mochte man dann doch nicht aufs Klo gehen, wegen der spannenden Diskussion: Christa Jenal vom Verein für Friedenserziehung streitet sich mit einer Reihe Ekeltextverfasser wie Alf Ator von Knorkator, Alex Wank von Pungent Stench und Tom v. K. von der Band Weissglut, deren Sänger wegen rechtsradikaler Tendenzen vor über zwei Jahren ersetzt wurde. „Böse Texte, böse Lieder: Wo ist die moralische Grenze?“ heißt das Panel, ist aber traurigerweise eine Art Seit-100-Jahren-verheiratetes-Ehepaar-Streit: Es geht nicht um die Sache, sondern um zwei verschiedene Grundansichten.

Jenal, die leider eine Frau ist – man hätte sich einfach gefreut, wenn den Part der moralapostolischen, an die Kinder und nur an die Kinder denkenden Anmahner ein Mann übernommen hätte –, Jenal jedenfalls findet Scheiße essen involvierende Sexpraktiken, Fötenfotos abbilden und Frauen vergewaltigen alles gleich verdammenswert. Die Jungs aus den Bands mit den ekeligen Texten und auch ihre Fans im munteren Publikum dagegen wehren sich mit Händen und Füßen (und völlig zu Recht) gegen die Gleichstellung von persönlicher Neigung im Bett und Gewalt an Lebenden. Der Rock-Hard-Chefredakteur Götz Kühnemund moderiert glücklicherweise und kann dieses Problem zwar nicht lösen, aber immerhin benennen.

Den wichtigsten Einwand bringt allerdings eine Zuschauerin: „Du bist einem Spaß aufgesessen“, sagt sie zu Jenal und meint damit, dass diese Bands mit (meist übrigens in unverständlicher Metalsprache vorgetragenem) Fötenessen, Kackeschmieren und Friedhofanpissen nur 1. provozieren und 2. von ihrer grauenhaft schlechten Musik ablenken wollen. Da kann man nur zustimmen. Wenn Jon Spencer solche beschissenen Texte singen würde, hätten wir auch ein Problem. Solange das nur Knorkator machen, nicht.

Dass es Jugendliche gibt, die nach dem Hörgenuss sofort losziehen, um einen Friedhof mit blutigen Stierhoden zu verzieren, hat wohl eher familiäre Ursachen. Die Lösung wäre vielleicht, statt christlich angehauchter MoralschützerInnen lieber eine prima Stilpolizei zu verpflichten. Die könnte dann diese ganzen Drecksbands verhaften.