Berlin im Wandel

Fassaden als Orte der Melancholie und Verlassenheit: Die Fotoausstellung StadtBlicke im Kunstforum zeigt, wie der Aufbau und Abriss der Stadt heute wie auch vor hundert Jahren Hand in Hand gingen

Berliner Stadtgeschichte lässt sich auf verschiedene Weise dokumentieren: Über 130.000 Originalfotos besitzt die seit 1995 bestehende Stiftung Stadtmuseum, meist übernommen aus der Fotografischen Sammlung des Märkischen Museums. Dessen Gründungsdirektor Ernst Friedel, zugleich Vorsitzender des Vereins für die Geschichte Berlins, hatte die Fotografie einst eifrig gefördert. Viele Stifter folgten damals seinem Beispiel. 1886 beauftragten zudem die städtischen Behörden mehrere Fotografen, die in rasantem Wandel befindliche Metropole im Lichtbild festzuhalten. Die jetzige Ausstellung im Kunstforum der Berliner Grundkreditbank – wo 1998 die Berlinische Galerie mit „Lichtseiten“ ihre mehr künstlerisch ausgerichtete und thematisch nicht ortsgebundene Fotokollektion in Auswahl vorstellte – konfrontiert rund 120 historische Fotos aus der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg mit Aufnahmen sechs heutiger Fotografen.

Die radikale Veränderung des Stadtbildes lässt sich eindrücklich an zwei Bildern studieren, deren Standpunkt und Blickwinkel sich gleichen. Beide Male haben die Fotografen vom Turm des Roten Rathauses das sich gen Westen bietende Panorama zwischen Nikolai- und Marienkirche mit Schloss (heute: Palast der Republik) und Dom als herausragenden Monumenten abgelichtet: 1904 war es Max Missmann; Florian Proftilich drückte 2000 auf den Auslöser. Nicht immer fallen Vergleiche so leicht, trotz thematischer Gliederung und Gegenüberstellung von damals und heute. Doch eine Übereinstimmung gibt es: den Wandel. Aufbau und Abriss gehen während beider Epochen Hand in Hand. Das neu gegründete Deutsche Reich veränderte das Stadtbild Berlins sicher ebenso einschneidend wie das vereinte Deutschland seine neu-alte Metropole nach dem Fall der Mauer.

Zu den ältesten Ansichten Berlins gehören das „Berlin-Panorama“ (1855) von Leopold Ahrendts, das „Rosenthaler Thor“ von F. Albert Schwartz und der „Hackesche Markt“ von Hermann Rückwardt. Der Wandel der Stadt zeigt sich in Bildern vom Alexanderplatz, von Börse (ihr musste das Palais Itzig weichen), neuem Dom (der alte wurde 1893 gesprengt) und Reichstag (dafür wurde das Palais des Grafen Raczynski abgerissen), von Rathaus und Oberbaumbrücke – alt wie neu. Ein Stadtplan von 1899 bietet räumliche Orientierung, die Bildlegenden verorten historisch, doch Bezüge zur Gegenwart muss jeder Betrachter für sich selbst ergänzen. Wie heißt doch gleich der U-Bahnhof Kaiserhof heute – mit Eingängen von Wilhelm- und Voßstraße?

Die Serien der jungen Fotografen gelten weniger einzelnen Bauwerken als dem städtebaulichen Kontext. Karl-Ludwig Lange fotografierte den Potsdamer Platz von Mitte der Siebzigerjahre an bis heute – mit Mauerbrache, Weinhaus Huth, Info-Box (auch schon historisch) bis Sony Center. Profitlich zeigt das Zentrum in spannenden Überblicksansichten, etwa den Alexanderplatz in einem 360[o]-Panorama in elf Teilen. André Kirchner führt 1994 mit der Kamera durch die noch kaum belebte Friedrichstraße, und Peter Thieme verwandelt Gebäudefassaden zu „Berliner Orten“ der Melancholie und Verlassenheit. Die Malerin Stefanie Bürkle zeigt den Rückbau des Reichstages in beeindruckenden Großaufnahmen.

Alte und neue Fotografien, Aufbau vorvorgestern und Aufbau heute: alles in allem also eine runde Sache – schon des Ausstellungsortes wegen? Nicht ganz. Die Aufnahmen der Zeitgenossen sind nämlich lediglich Leihgaben. Das Museum würde sie gerne ankaufen, um seine spezifische, geschichtsdokumentierende Sammlung – was den Kunstwert meist einschließt – zu erweitern und zu ergänzen. Aber es fehlen schlicht die Ankaufmittel. Wie war das doch 1886? Damals vergab die Stadt gezielt Aufträge an Fotografen. Das sollte heute wieder so sein.

MICHAEL NUNGESSER

Bis 9. 9., täglich 10 bis 18 Uhr, Kunstforum in der Grundkreditbank, Budapester Str. 35.; Katalog 29,90 DM