Gesalzene Rechnung fürs Wachstumsmantra

Beispiel Japan: Zehn Jahre wuchs die Wirtschaft des einst reichsten Industrielandes nur um ein Prozent. Alle hofften auf eine Rückkehr zum Drei-Prozent-Wachstum, der Staat gab Finanzspritzen und die Banken Kredite. Vergeblich. Gestiegen sind Arbeitslosigkeit und Staatsschulden

TOKIO taz ■ Seit Junichiro Koizumi als neuer Ministerpräsident die Zügel Japans in der Hand hält, ist die Rede von schneller Erholung und hohen Wachstumszahlen verstummt. Niemand glaubt mehr, dass die zweitgrößte Wirtschaftsmacht ein schnelles Comeback schaffen wird. Im Gegenteil: Das Land wird die Talfahrt noch einige Jahre fortsetzen, bevor es sich langfristige erholt.

Jahrelang war das anders. In der Hoffnung auf mehr Wachstum versuchte der Staat, die Wirtschaft zu stimulieren, die Banken hielten schwächelnde Unternehmen am Leben. Alle rechneten damit, einen kräftigen Schluck aus der Pulle nehmen zu können, wenn das Wachstum erst wieder bei drei Prozent läge. Doch daraus wurde nichts. Seit einem Jahrzehnt ist das Bruttoinlandsprodukt im Schnitt nur um jährlich ein Prozent gewachsen. Im selben Zeitraum machte das Land drei Rezessionen durch, gerade steht es vor der vierten.

Eigentlich müsste so ein ökonomisches Desaster in den Städten zu sehen sein. Jedoch sind Tokios Straßen in bestem Zustand. Fußgänger wird innerhalb einer Stunde nicht viermal um eine Mark gebeten, wie in jeder deutschen Kleinstadt. Und das steigende Heer von Arbeitslosen – rund fünf Prozent der Bevölkerung – bleibt fast unsichtbar.

Mai-Demos wie Familienausflüge

Allerdings hat diese Fassade einige Risse bekommen. Die Zahl der Obdachlosen hat sich in den letzten fünf Jahren fast verdreifacht. Ausländische Touristen sehen sie in einigen Parks, unter Brücken oder entlang des bekannten Sumidaflusses im Tokioter Asakusaviertel. Und sie sehen sie äußerst gut organisiert: es sind Mikrogesellschaften, die nach ihren eigenen Regeln eine parallele Existenz zur Gesamtgesellschaft führen, die ohne gewalttätige Konfrontationen abläuft. Auch der Stellenabbau führt kaum zu sichtbaren Spannungen: Es gab im Krisenjahrzehnt keine einzige große Arbeiterdemo, die 1.-Mai-Kundgebungen wirken wie Familienausflüge.

Die Fassade ist noch relativ schön, weil das jahrelange Wachtumsmantra dazu verleitete, sich trotz Stagnation hoch zu verschulden. Seit 1992 hat die Regierung unter Anleitung der Bürokratie der Wirtschaft zehn Konjunkturspritzen verabreicht, die insgesamt mehr als 2.000 Milliarden Mark kosteten. Das Budgetdefizit ist von 60 Prozent im Jahre 1992 auf 130 Prozent eines jährlichen Bruttoinlandsproduktes im Jahre 2001 angeschwollen. In nur zehn Jahren ist Japan damit vom reichsten zum höchstverschuldeten Industrieland in der OECD abgestiegen.

Grundlage für das Leben auf Pump war der Glaube, dass das Land damit wieder ein Wirtschaftswachstum von mindestens drei Prozent erreichen würde. Dieser Glaube verführte die Industrie und ihre Banken, Reformen zu verschieben. Statt Unternehmen, die nicht mehr wettbewerbsfähig waren, in kontrollierten Konkurs zu schicken, wurden sie am Kredittropf gehalten. Die Schulden in der Privatindustrie wuchsen fast so schnell wie die der öffentlichen Hand. Das Resultat ist ernüchternd. Im Finanzsektor lasten rund 4.200 Milliarden Mark an riskanten Krediten und die Banken müssen nach den Regierungsplänen in den nächsten zwei Jahren wahrscheinlich rund 1.700 Milliarden Mark an faulen Krediten abschreiben.

1.700 Milliarden an faulen Krediten

Die Rechnung für das Leben auf Pump wird jetzt präsentiert, vorausgesetzt, Koizumi setzt seine Reformen in die Tat um. Hinter der abstrakten Zahl von 1.700 Milliarden Mark verbergen sich tausende von kleinen, mittleren und großen Unternehmen in Bauwirtschaft, Immobilien, Transportindustrie, Einzelhandel, die in den vergangenen zehn Jahren ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht verbessert haben. Hier steht der Aderlass noch bevor. Mit Ernüchterung nehmen die Japaner nun zur Kenntnis, dass sie unter den weit fortgeschrittenen Industriestaaten eines der unsichersten Fürsorgenetze besitzen. In der staatlichen Arbeitslosenversicherung gibt es ein Milliardenloch, das nun ausgerechnet in der tiefsten Krise gestopft werden muss. ANDRÉ KUNZ