Strategen und Moralisten

DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER

Die Kritik der Globalisierungsgegner könnte zum Reflexions-moment rationaler Beratungen werden

„Noch nie wusste man so wenig von der Zukunft wie heute.“ Norbert Bolz, Weltkommunikation, S. 98

Was wir wissen, ist, dass in naher Zukunft, nämlich noch im Laufe dieses Jahres, fünf weitere Gipfeltreffen geplant sind und voraussichtlich stattfinden werden. Als Berlusconi nach dem Schock von Genua vorschlug, die Konferenz der Welthungerorganisation (FAO) von Rom nach Nairobi zu verlegen, listete die Turiner Zeitung La Stampa die Termine auf: Ende August UNO-Konferenz gegen den Rassismus in Durban, Südafrika; Ende September Jahresversammlung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Washington; im Oktober außerordentliche Tagung des Europarats in Gent; Anfang November Weltgipfel der FAO in Rom; Mitte November Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation in Doha. Die Protestaktionen der Globalisierungskritiker und -gegner sowie die Vorbereitungen für die Invasion der Tagungsorte seien bereits angelaufen, fügte die Zeitung hinzu. Eine lakonische Mitteilung, die zwischen den Zeilen Prognosen nahe legt: der Widerstand der Kritiker und die Gewalt der Gewaltbereiten werden sich verschärfen – und die Repressionsmaßnahmen der „Anti-Krawall“-Offiziere auf der Gegenseite auch.

Die Entwicklung bewegt sich in eine Spirale hinein, die zur Folge haben könnte, dass einige wesentliche Fragen aus dem Blick geraten. Wenn es zutrifft, dass der globalen Wissensgesellschaft das Wissen über ihre Zukunft immer mehr und immer schneller abhanden kommt, sind Beratungen auf globaler Ebene – wie auch auf allen anderen Ebenen – nicht nur sinnvoll, sondern dringend erforderlich. Globalisierungsverfechter und Globalisierungskritiker, Regierungsvertreter und NGOs könnten, nein: müssten sich in immer kürzeren Zeitabständen treffen, um aus ihrer gemeinsamen Ahnungslosigkeit Schlüsse zu ziehen. Sie könnten sich über den Vorrat an Chancen und Handlungsoptionen verständigen, die ihnen gerade die Nichtberechenbarkeit der Zukunft eröffnet. Sie hätten etwa darüber zu beraten, ob sich – in der Weltwirtschaft, in Umweltfragen, in der Migrationsproblematik oder zur Verbesserung der Menschenrechte – Wege anbieten, die versuchsweise gegangen, aber auch wieder verlassen werden können, wenn das Wissen über den zu erwartenden Erfolg nicht ausreichen sollte. Alle Beteiligten hätten sich weniger über ihren Wissensvorrat als über ihr Reservoir an Nichtwissen auszutauschen – und sie müssten selbstverständlich testen, ob das gemeinsame Stochern im Nebel zumindest punktuell Bündnisse ermöglicht. Stattdessen geschieht etwas ganz anderes. Die angeblich Mächtigen der Welt, Ökonomen und Politiker, treffen sich in immer kürzeren Zeitabständen, als wollten sie ausprobieren, ob es möglich ist, die Zukunft in die Gegenwart vorzuverlegen. Sie geben sich selbst und der Welt den Anschein, Entscheidungen zu treffen, mit denen die Zukunft stillgestellt und das rasant entschwindende Wissen wieder eingeholt, in die Gegenwart hereingeholt werden kann. Dabei müssen sie verbergen, dass ihnen allenfalls vergangenes Wissen zur Verfügung steht, das Wissen vergangener Gegenwart, die immer schon im Blindflug in eine unbekannte Zukunft steuerte. Mit der Maske der Entschlossenheit versuchen sie, sich selbst und die Welt von diesem Defizit abzulenken. Es ist so, als hätten sie Norbert Bolz, den Theoretiker der Weltkommunikation, gelesen: „Wenn man nicht weiß, was kommt und was zu tun ist, muss man entscheiden. Dafür gibt es in der modernen, hochkomplexen Welt keinen Außenhalt. Das Auseinanderbrechen von Herkunft und Zukunft hat zu einem Orientierungsdefizit geführt, das nur durch permanentes Entscheiden kompensiert werden kann.“

Man könnte also meinen, es seien tatsächlich Strategen der Globalisierung am Werk, die sich mächtig ins Zeug legen und von einem Gipfel zum anderen eilen, um mittels permanenten Entscheidens ihrem Wissensdefizit ein Schnippchen zu schlagen. Die alles daran setzen, um mit vorauseilender Intelligenz die Zukunft zu „gestalten“, da sie schon nichts von ihr wissen können. Aber dem ist nicht so. Prüft man die Nachrichtenlage genauer, drängt sich der Eindruck auf, dass der Ertrag an substanziellen Entscheidungen jeweils gegen null tendiert. Die politische Realität im traditionellen Verständnis verflüchtigt sich also immer mehr, während die politische Semantik des „Gipfels“ im Sinne einer „virtual reality“ von Mal zu Mal an performativer und selbstreferentieller Magie gewinnt. An den Bruchstellen zwischen „Herkunft und Zukunft“ setzen die Gipfel ein Symbol, das allein den Zweck verfolgt, die Frakturen optisch zu kitten. Da im Zeitalter der Beschleunigung die Bruchstellen rasant zunehmen, schrumpfen auch die Zeitabstände zwischen den Gipfeltreffen. Die Ära eines permanenten Gipfels ist nicht mehr fern – eines Zustands also, in dem wir alle den Eindruck haben werden, dass irgendwelche Verantwortliche rund um die Uhr entschlossen und global dem Nichtwissen die Stirn bieten und sich ins Dunkel der Zukunft stürzen. Es erübrigt sich beinahe der Hinweis, dass die Scheinwerfer, die sie dafür benötigen, von den Medien gestellt werden.

Es leuchtet ein, dass bei einem so hohen Potenzial an Selbstreferentialität auf der Seite der Gipfel-Repräsentanten die Maßnahmen zur Selbstverteidigung perfektioniert werden müssen. Ebendies meinte Otto Schily, als er seinen italienischen Kollegen kürzlich belehrte, der „Staat“ dürfe gegenüber seinen Kritikern auf gar keinen Fall zurückweichen – nur, dass er sich dabei eines vollkommen obsoleten, nämlich national-etatistischen Vokabulars bediente.

„Wen man nicht weiß, was kommtund was zu tun ist,muss manentscheiden“

Der Selbstreferentialität der Globalisierungsstrategen entspricht die der militanten Globalisierungsgegner akkurat. Als Mitspieler einer abstrakt gewordenen, ihrer selbst unsicheren Wissensgesellschaft wissen sie über die Zukunft nicht mehr als die Politiker und Ökonomen. Aber sie artikulieren schärfer als andere das Angstpotenzial, das von der allgemeinen Ungewissheit freigesetzt wird und durch die modernen Gesellschaften vagabundiert – von ihnen wird es gebündelt und in die Sprache heftiger Zeichen übersetzt. Ihre Gegnerschaft, also ihre Angst, könnte zum Reflexionsmoment rationaler Beratungen werden, bei denen alle Beteiligten wissen, dass sie sich im Ungefähren bewegen, aber aufeinander angewiesen sind. Das funktioniert jedoch nicht. Es funktioniert nicht, weil die Gegner – nicht anders als die Strategen – auf selbstreferentielle Militanz setzen. Und weil sie als klassische Heilsverkünder für sich in Anspruch nehmen, was Erfolg versprechende Diskurse eher verhindert als ermöglicht: die Moral. Lernunwilligkeit also auf beiden Seiten. „Deshalb vertragen sich Strategen und Moralisten so gut.“ (Bolz)

Es stehen sich somit, wieder einmal, Blöcke gegenüber. Blöcke kennzeichnet, wie mittelalterliche Burgen, zunächst die Selbstreferenz, dann die Feind- Referenz. Burgen sind heute Museum, sie gehören zum Archiv der Wissensgesellschaft, sind Ausflugsziele für die Familie am Sonntag. Jedenfalls: hoffnungslos unzeitgemäß.