Der Angeklagte

aus Singapur SVEN HANSEN

„Wenn die Bevölkerung mich im Parlament haben will, muss sie für mich zahlen“, sagt Joshua Benjamin Jeyaretnam. Der singapurische Oppositionspolitiker würde gerne noch einmal kandidieren. Doch das darf er erst, wenn er der Regierungspartei viel Geld zahlt. Das oberste Gericht des südostasiatischen Stadtstaats hat den ehemaligen Richter und Anwalt erneut wegen angeblicher Verleumdung zu Schadensersatz verurteilt. „Ich brauche ungefähr eine halbe Million Singapur-Dollar“, sagt der Politiker der kleinen Arbeiterpartei. Das entspricht etwa 625.000 Mark. Bis zum 23. Juli war der Sozialdemokrat im 93-köpfigen Parlament des multiethnischen Staats einer von nur drei Oppositionsabgeordneten. Als sein Berufungsantrag abgelehnt wurde, verlor er wegen Zahlungsunfähigkeit sein Mandat.

Seit 25 Jahren zerren die Politiker aus der autoritär regierenden People’s Action Party Jeyaretnam vor Gericht. Die vielen Verleumdungsklagen sind kaum zu durchschauen. Was ihm zur Last gelegt wird, würde in westlichen Demokratien niemanden aufregen, weil es dort zur Meinungsfreiheit gehört. Nicht so in Singapur. Hier argumentiert die Regierung, sie müsse ihr Ansehen vor falschen Anschuldigungen schützen: ein probates Mittel, die Opposition klein zu halten.

Der erste Oppositionelle

Jeyaretnam wurde verurteilt, weil 1995 in seinem Parteiorgan Der Hammer ein tamilischsprachiger Artikel erschien, in dem den Organisatoren einer tamilischen Sprachwoche vorgeworfen wurde, weniger die Sprache der Minderheit als vielmehr die eigene politische Karriere zu fördern. Jeyaretnam war zwar nicht der Autor des Textes, wurde aber als Generalsekretär der Arbeiterpartei für die Veröffentlichung verantwortlich gemacht. 1997 wurde er verurteilt, 200.000 Singapur-Dollar (ca. 250.000 Mark) Entschädigung in sechs Raten zu zahlen. Bevor Jeyaretnam im Januar dieses Jahres eine Rate einen Tag zu spät anwies, hatten die Organisatoren der Sprachwoche, von denen einer inzwischen im Parlament sitzt, bereits die Klage eingereicht, die ihn jetzt das Mandat kostete.

Seit der ceylonesischstämmige Jeyaretnam 1981 als erster Oppositionspolitiker überhaupt ins Parlament gewählt wurde und damit das sechszehnjährige Monopol der People’s Action Party brach, ist er für diese ein rotes Tuch – insbesondere für Singapurs Gründer- und Übervater Lee Kuan Yew. Der Premier, der 31 Jahre im Amt war und heute noch als Seniorminister die Fäden zieht, hat erklärt, er wolle Jeyaretnam politisch zerstören.

Jeyaretnam wurde erstmals gewählt, kurz nachdem seine Frau verstorben war. Ohne die finanzielle Unterstützung seiner beiden Söhne, von denen einer in Singapur als Anwalt und der andere in London als Ökonom arbeitet, hätte er nicht durchhalten können. Denn bisher hat er nach eigenen Angaben knapp 1,5 Millionen Singapur-Dollar an Regierungspolitiker, Anwälte und Gerichte gezahlt. Dafür musste er 1981 sein Haus verkaufen, 1993 seine Wohnung. Inzwischen wohnt er in der preiswerteren Nachbarstadt Johor Baru in Malaysia. In Singapur hat er nur noch wochentags ein kleines Zimmer im Oxford-Hotel. Jetzt droht dem weißhaarigen Politiker auch die Kündigung seines Büros. Das Telefon wurde ihm schon abgeklemmt. „Ich muss Freunde bitten, für mich das Telefon anzumelden“, sagt er beim Treffen in seinem Hotel in der Queen-Street. Nur ungern nimmt er die Hilfe an.

Obwohl Jeyaretnam inzwischen 76 Jahre alt ist, will er nicht aufgeben. Er sei zäh, sagt er mit kräftiger Stimme. Auch wenn er schon öfter ans Aufhören gedacht habe. „Doch die Menschen wollen, dass ich weitermache. Dafür müssen einhunderttausend Wähler jeweils fünf Singapur-Dollar spenden.“ Zuletzt hatte seine Partei einhunderttausend Wähler. Woher er die Kraft nimmt? „Der Herr da oben will, dass ich weiter mache. Sonst hätte er mir nicht so eine gute Gesundheit gegeben“, sagt Jeyaretnam. Sein Gesicht strahlt. Er gehört zur anglikanischen Kirche.

Nur weiß niemand, wann die Wahlen stattfinden. Laut Verfassung muss bis zum August 2002 gewählt werden. Doch die Regierung bestimmt den Termin und kann ihn kurzfristig ansetzen. Die Mindestdauer des Wahlkampfs beträgt ganze neun Tage. Momentan steckt Singapur in der Rezession. Das ließe auf einen späten Termin schließen. Doch die eingeschüchterte Bevölkerung neigt in wirtschaftlich schwierigen Zeiten dazu, eher die Regierung zu stützen. In Boomzeiten ist dagegen mehr Pluralismus gefragt. „Ich rechne mit der Wahl zum Jahresende“, sagt Jeyaretnam. Schon einmal fanden die Wahlen so früh statt, dass er nicht teilnehmen konnte. 1985 hat er erstmals nach einer Klage Lee Kuan Yews sein Mandat verloren. Bei der Berufung vor dem Privy Council in London stellten die Richter fest, dass Jeyaretnam „bestraft, verhaftet und öffentlich für Vergehen in Misskredit gebracht wurde, derer er nicht schuldig ist.“ Doch Singapurs regierungsnahe Justiz akzeptierte die Entscheidung der Lordrichter nicht. Jeyaretnam wurde für fünf Jahre für politische Ämter gesperrt. Zwei Monate vor Ende dieser Frist setzte die Regierung dann 1991 Wahlen an, obwohl die Amtsperiode noch zwei Jahre dauerte.

Erst 1997 konnte er wieder kandidieren. Er bekam in seinem Wahlkreis 45 Prozent der Stimmen. Doch das reichte nicht. Da half ihm ausgerechnet eine singapurische Besonderheit: Denn um dem politischen System Glaubwürdigkeit zu verleihen, sehen die Gesetze inzwischen vor, dass die Opposition auf jeden Fall drei Sitze mit eingeschränktem Stimmrecht bekommt, auch wenn keiner ihrer Kandidaten gewählt wird. Einer dieser drei Sitze ging an Jeyaretnam, den nicht gewählten Oppositionskandidaten mit den meisten Stimmen. Dieses Mandat hat er jetzt verloren.

Lieber ins Gefängnis

„Dem Parlament fehlt ein starker Oppositionspolitiker. Das ist für Singapur sehr bedauerlich“, sagt Chee Soon Juan. Der Neuropsychologe ist Generalsekretär der winzigen Singapur Democratic Party und kämpfte erfolglos um ein Mandat. Jeden Mittag steht er an der Orchard Road und verkauft dort sein neues Buch „Ihre Zukunft, mein Glaube, unsere Freiheit“. Kaum ein Laden wagt es zu verkaufen. „Ich habe großen Respekt vor Jeyaretnam und seinem Glauben an die Demokratie. Ich bewundere seine Ausdauer“, sagt Chee. Auch er musste schon eine Million Mark Schadensersatz wegen Verleumdung aufbringen. „Doch nächstes Mal gehe ich lieber ins Gefängnis. Wie Jeyaretnam würde ich nicht mehr zahlen. Das zahlt sich nur für die Regierung aus.“

Die sieht das ganz anders. „Mister Jeyaretnam wäre nicht zerstört worden, hätte er sich keinen Ärger eingebrockt“, sagt Ong Keng Yong, der Sprecher des Premiers Goh Chok Tong. „Jeyaretnam wurde nicht verklagt, weil er ein Oppositionspolitiker ist, sondern weil er in Wahlkämpfen seine Gegner ungezügelt verleumdet hat.“ Hätte die Regierung ihn mundtot machen wollen, hätte sie dazu längst Gelegenheit gehabt, so Ong.

Jeyaretnam spricht von einer Instrumentalisierung der Justiz für politische Zwecke. „Ich bin desillusioniert darüber, wie hier in Singapur Recht gesprochen wird.“ Er wird wohl mehr als die halbe Million Dollar brauchen. Bereits Ende April organisierte die Opposition eine Kundgebung, auf der sie Geld für ihn sammelte. Doch nur knapp 2.000 Bürger hatten den Mut zu kommen. Von den gespendeten 40.000 Dollar ging die Hälfte für Unkosten drauf, weil die Regierung eine so seltene Veranstaltung nur mit hohen Auflagen wie der Bezahlung eines privaten Sicherheitsdienstes genehmigte.