Ringen zwischen Ja und Nein zum Leben

■ „Selbstmord kann jeden treffen“: Kulturwoche Suizidalität will das tiefe Schweigen über ein Thema brechen, das jeden treffen kann und die Kunst seit Jahrhunderten beschäftigt

Wer bin ich? Was bin ich?“, fragt Sylvia Plath in ihrem verzweifelten Versuch, den scheinbaren und realen Anforderungen ihrer Mutter zu genügen. Es gelingt ihr nicht. Am Ende entlädt sich das quälende Gefühl der Unzulänglichkeit im Suizid: 1963, im Alter von 30 Jahren vergiftet sich die amerikanische Dichterin mit Küchengas. Sie tötet ihr „falsches Selbst“, um ihren inneren Konflikt zu lösen.

Die in ihren Gedichten und ihrem Roman Die Glasglocke beschriebene innere Zerissenheit zwischen Todessehnsucht und Lebenwollen, ist Ausdruck des „immer wiederkehrenden Versuchs, eine eigene, von der Mutter getrennte weibliche Identität zu errichten, und andererseits der Wunsch, die Dualunion mit der Mutter aufrechtzuerhalten“, schreibt Benigna Gerisch in ihrem Aufsatz „Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich“. Der Beginn einer Analyse der in der Wissenschaft bisher wenig beachteten Eigendynamik des weiblichen Suizids.

Seit zehn Jahren arbeitet die Psychoanalytikerin im Therapie- und Forschungszentrum für Suizidgefährdete (TZS) am UKE und entdeckte, dass die ihr Selbst tötende Frau stets im Vergleich mit Männern behandelt und Therapien „primär von imaginativen Vorstellungen, Geschlechterrollen-Stereotypen und männlichen Phantasmen geprägt“ waren. Nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch noch in den 70er Jahren wurde die im Vergleich zu Männern geringere Anzahl der Suizide aber doppelt so hohe Rate der Suizidversuche, damit erklärt, dass die Frau entweder zu blöd ist, sich ihr Leben zu nehmen oder einfach nur auf sich aufmerksam machen will. Ob und wozu die Anzahl der Tabletten ausreichen sollte, sei eine müßige Diskussion. Sie führe zu nichts, sagt Benigna Gerisch. Sie sage keineswegs etwas über die Schwere der seelischen Not aus. „Im Gegenteil, es besteht die Gefahr, dass der Wille sich das Leben zu nehmen, unterschätzt wird.“ Jeder Dritte versucht nach einem missglückten Suizidversuch innerhalb eines Jahres erneut, sich umzubringen.

Bis ins Detail beschreiben die seelische Not neben Sylvia Plath auch Autorinnen wie Anne Sexton, die sich mit 46 Jahren mit Autoabgasen vergiftete, Marina Zwetajewa, die sich mit 49 erhängte, Unica Zürn, die sich mit 54 in Paris aus dem Fenster stürzte, und Virginia Woolf, die sich im Alter von 59 Jahren ertränkte. Benigna Gerisch dienen die Gedichte und Romane dieser Frauen als Quelle und zum Verständnis des weiblichen suizidalen Erlebens und Handelns.

Statistisch gesehen tötet sich in Hamburg jeden dritten Tag eine Frau. Damit hat Hamburg die höchste Suizidrate unter Frauen. Warum das so ist, weiß man bisher nicht. Die Zahl der Suizide steigt mit dem Alter: Fast jede zweite Frau, die sich tötet, ist älter als 60 Jahre. Doch die Suizidalität, die sich in dem Versuch, das Leben zu beenden ausdrückt, ist ungleich höher. Sie beginnt oft mit der Pubertät, wenn die Entwicklung eines eigenen Körpergefühls, unabhängig von den Eltern, gestört wird. „Sie sah liebend und vorwurfsvoll aus, und ich wollte sie weg haben“, schreibt Sylvia Plath in ihrer Glasglocke und bringt damit zum Ausdruck, worüber die Wissenschaft schweigt: „Töchter haben es in der Pubertät besonders schwer, weil sie die gleichgeschlechtliche Mutter als Orientierung und Identifikationsfigur brauchen, sich aber gleichzeitig von ihr lösen müssen, während der Sohn sich nicht an seiner allerersten Bezugsperson, sondern am Vater orientiert“, erklärt Benigna Gerisch. Ein Kernkonflikt, der sich bis ins hohe Alter trägt und den Sylvia Plath in ihrem Kampf um eine Daseinsberechtigung als erfolgreiche Tochter und den immer wiederkehrenden Selbstzweifeln formuliert. Und wie so viele verliert sie schließlich diesen Kampf und gibt sich auf: „Die Frau ist vollendet. Ihr toter Körper trägt das Lächeln des Erreichten. Der Anschein einer griechischen Notwendigkeit fließt in den Schnörkeln ihrer Toga, ihre bloßen Füße scheinen zu sagen: Wir kamen bis hierher, es ist vorbei.“ Gesine Kulcke

Heute spricht Benigna Gerisch in der Heinrich-Heine-Buchhandlung über „Sterben ist eine Kunst, wie alles“ (siehe Programm)

Fast jeder kennt jemanden, dem der Ausweg aus dem Leben als einziger Ausweg schien. 1999 töteten sich in Deutschland mehr als 11.000 Menschen, ungefähr zehnmal so viele überlebten einen Suizidversuch, oft mit bleibenden Schäden. Meistens geht es dabei um Beziehungen, die enden, weil jemand geht oder stirbt. In Hamburg haben sich 1999 271 Menschen getötet, mehr als 4000 haben es versucht.

„In Grenzsituationen können wir alle suizidal werden“, sagt Professor Paul Götze, Leiter des Therapiezentrums für Suizidgefährdete (TZS). Dann ringen lebenserhaltende und lebenszerstörende Kräfte miteinander. Dieses Ringen taucht in Kunst, Musik, Literatur seit Jahrhunderten auf. Deshalb will das TZS das tiefe Schweigen zu diesem Thema mit einer Kulturwoche brechen, die mit „... darüber reden“ überschrieben ist (Programm siehe unten).

Sie ist dem vom TZS veranstalteten Fachkongress „Suizidalität-Psychoanalyse“ vorgeschaltet, bei dem vom 30. August bis zum 2. September etwa 400 Wissenschaftler aus 15 Ländern diskutieren. Die Schirmherrschaft haben Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt und die Weltgesundheitsorganisation WHO übernommen. Kongress und Kulturwoche könnten ein fröhliches Geburtstagsprogramm sein, denn das TZS wurde vor zehn Jahren mit einer privaten Millionenspende gegründet. Zum Feiern ist den Mitarbeitern allerdings nicht, denn seit Monaten ist die Existenz des Zentrums gefährdet (taz berichtete). Die zeitintensive psychotherapeutische Behandlung wird von den Kassen nicht kostendeckend vergütet. Weil auch die anderen psychiatrischen Ambulanzen des UKE unter wachsendem Kostendruck stehen, hat die Klinikleitung bereits zwei der vier Therapeutenstellen abgezogen. Um weiter arbeiten zu können, ist das TZS auf Spenden angewiesen. „Wir sind bereit, uns weiter um Spenden zu bemühen. Aber das können wir nur, wenn die Behördenleitung für den langfristigen Erhalt des TZS garantiert“, sagt Josef Grässle-Münscher vom Förderverein TZS.

Die Wissenschaftsbehörde hat sich gestern ein bisschen bewegt: Das UKE will die zwei Stellen bis Ende 2002 sichern, die Behörde darüber hinaus bis 2005. Allerdings nur, wenn das TZS sich bis dahin einer Evaluation unterzogen hat, die „Veränderungen des UKE Rechnung trägt“. Sandra Wilsdorf