Ein Wink für Schäuble

Die parlamentarische Kontrolle über Militäreinsätze darf nicht ausgehöhlt werden: Ein Vortrag der Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry in Berlin

von DAVID LAUER

Erstaunliche Pflanzen gedeihen im Berliner Sommer. Das in Berlin im Aufbau begriffene, private European College of Liberal Arts (ECLA) fliegt etwa anlässlich seiner Sommeruniversität seit Wochen internationale Spitzenwissenschaftler/innen ein, die außerhalb der Ferien überall für Ströme von Theoriejüngern sorgen würden. In fast privatem Rahmen jedoch findet die Vortragsreihe über Begriff und Zukunft des Nationalstaats statt, zu der am Dienstagabend Elaine Scarry (Harvard) antrat.

Das spektakuläre Ambiente des Max-Liebermann-Hauses der Bankgesellschaft Berlin passt zum Eliteanspruch des ECLA, dessen Programm sich am angelsächsischen Collegemodell ausrichtet. Obwohl die achtzig Teilnehmer/innen der Sommerkurse laut Direktor Jan Müller aus 24 Nationen kommen, ist die Atmosphäre unverkennbar amerikanisch: Man spricht selbstverständlich Englisch, die Vermeidung eines teutonischen Akzents hat oberste Priorität.

Amerikanisch im besten Sinne war allerdings auch Scarrys Vortrag: verständlich und uneitel, engagiert und doch ironisch, argumentativ und mit Spaß an der Debatte. Scarry, die an der Fakultät für englische Literatur lehrt und sich für den Zusammenhang von Sprache, politischer Repräsentation und Identität interessiert, begann bei den frühen Theoretikern des Gesellschaftsvertrags, um in Erinnerung zu rufen, dass die Konstitution demokratischer Gesellschaften in erster Linie einem Ziel dient: der Vermeidung von Krieg und Gewalt. Fast alle demokratischen Verfassungen legen sich daher auf drei fundamentale Regeln fest. Erstens: Gewalt gegen die Mitglieder der eigenen oder anderer Gesellschaften ist verboten. Zweitens: Die erste Regel kann nur außer Kraft gesetzt werden, falls außergewöhnlich sorgfältige öffentliche Beratungsprozeduren durchlaufen wurden. Drittens: Die zweite Regel kann nur in einer Situation akuter Notwehr außer Kraft gesetzt werden.

Es war die zweite Regel, auf die Scarry sich konzentrierte. Dieser demokratische Grundpfeiler wird zunehmend zugunsten militärischer Zweckmäßigkeitsüberlegungen ausgehöhlt. In den Augen der Exekutive bildet die von der Verfassung vorgeschriebene komplexe Entscheidungsfindung eine unannehmbare Einschränkung ihrer Optionen, auf vermeintliche Bedrohungen oder Krisen militärisch zu reagieren. Dagegen setzte Scarry ihr elegant gearbeitetes Argument, warum die parlamentarische Kontrolle über Militäreinsätze nicht ausgehöhlt weden darf: weil es sich in gewissem Sinne um die fundamentalste Entscheidung handelt, die eine legislative Körperschaft fällen kann – eine Entscheidung, die mit potenziell selbstzerstörerischer Sprengkraft an die Raison d’être der demokratischen Verfassung selbst rührt, die Vermeidung des Krieges.

Das Problem hat auch einen technologischen Unterbau: Solange Krieg nämlich bedeutet, große Teile der Bevölkerung in den möglichen Tod zu schicken, besteht auch immer die Möglichkeit, dass diese Bevölkerung sich verweigert. Erst die Entwicklung moderner, effizienter Waffensysteme, die den Krieg zur Sache einer relativ kleinen Spezialistentruppe macht, ermöglicht die schleichende Ausbootung des Souveräns.

Leider bezog sich die Diskussion fast ausschließlich auf das Atomwaffenarsenal der USA. Es blieb den Zuhörern überlassen, die Relevanz von Scarrys Überlegungen für derzeitige deutsche Debatten auszuspinnen, z. B. für die jüngsten Vorschläge, Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht länger von der Zustimmung des Parlaments abhängig zu machen. Scarry malte aus, warum staatsmännisch-einsame oder durch Expertengremien gesteuerte Entscheidungen den öffentlichen Diskurs in dieser Frage nicht ersetzen können: Dieser benötigt die öffentlichen Einwände tatsächlich Betroffener, er muss real sein. Es käme einer Untergrabung der Demokratie gleich, die gesellschaftliche Meinungsfindung in solchen Gremien stellvertretend simulieren zu wollen.