Der Kanzler schweigt – und lernt

Ab und zu kann Gerhard Schröder auch zuhören: Zum Beispiel dann, wenn sich europäische Intellektuelle über die Zukunft des Kontinents unterhalten

aus Hirschfelde und Mladá BoleslavPATRIK SCHWARZ

Sein Scheitel sitzt links, sein Hemd ist verziert mit Eichenlaubstickereien und Hirschhornknöpfen aus Plastik. Ein Nazi sei er darum noch lange nicht, beharrt der junge Mann, der seinen Namen nicht nennen will. Es ist schade, dass Gerhard Schröder den 21-Jährigen, der Achim heißen könnte oder Mike, nicht getroffen hat. Denn eigentlich ist der Bundeskanzler dieses Jahr ja wegen Leuten wie ihm nach Ostdeutschland gekommen. Menschen mit Angst vor einer Erweiterung der EU Richtung Osten. Für sie hat der Kanzler seine Sommerreise durch die fünf neuen Länder um Abstecher nach Tschechien und Polen ergänzt und als Werbetour für die Osterweiterung angelegt.

Doch im sächsischen Hirschfelde ist die Limousine des Kanzlers an der kleinen Gruppe von Demonstranten vorbeigebraust, die Kiesauffahrt hoch zu einem nobel untergebrachten Vorzeigeprojekt, wo schwer vermittelbare Jugendliche eine Ausbildung erhalten. Drinnen besichtigt Schröder eine liebevoll gestaltete Schautafel mit der Überschrift „Jugendaustausch mit Olesnica (Polen)“. Draußen halten Achims Freunde den Slogan hoch „EU = Europas Unglück“. Durch Billigarbeiter aus den östlichen Ländern seien die wenigen verbliebenen Arbeitsplätze in dieser Grenzregion zu Polen und Tschechien in Gefahr. „In der Schule heißt’s immer EU und Globalisierung“, klagt Achim. Die von ihm organisierte „Gemeinschaft für aktive Jugendarbeit“ dagegen mache „viel Heimatkunde“.

Mag die Truppe auch extremer auftreten als die Mehrheit der Hirschfelder, so dürften ihre Ansichten doch weit verbreitet sein in einem Ort, in dem die NPD bei den Kommunalwahlen fast so stark wie die SPD wurde. Wenn der Kanzler und Parteivorsitzende auf seiner Reise die Chancen der Erweiterung predigt, dann redet er an gegen eine Gemengelage aus nationalen Ressentiments, wirtschaftlicher Existenznot und diffuser Zukunftsangst. Und mit einer Beharrlichkeit, die an Penetranz grenzt, trägt er seine Botschaft vom „ökonomischen Nutzen“ vor, den die Erweiterung den Deutschen mindestens so sehr bringe wie den Beitrittskandidaten.

Welche Methode hinter seinem Werben steht, eröffnet sich abends, im Hotel. Da denkt er laut über seinen Tag nach, mal mit einer Runde von acht Wissenschaftlern aus Deutschland und den östlichen Nachbarländern, mal vor dem Tross der mitreisenden Journalisten. Und immer kommt er auf die Green Card zu sprechen. Das ist zunächst einmal merkwürdig, denn mit der Osterweiterung hat diese nichts zu tun. EU-Bürger brauchen gar keine Green Card.

Doch für Gerhard Schröder handelt es sich dabei um mehr als eine Verwaltungsregelung. Der Erfolg der Green Card steht in den Augen ihres Schöpfers für die Erfindung eines Schröder’schen Politikprinzips: man muss aus einer Angst-Debatte eine Nützlichkeits-Debatte machen.

Früher, so erläutert Schröder, sei jede Partei vom Wähler abgestraft worden, die versuchte, Deutschland zum Einwanderungsland zu erklären. Erst seit die Green Card die Zuwanderung vom Nutzen für die deutsche Gesellschaft abhängig gemacht habe, beginne sich die Angst zu legen. Nach derselben Methode spricht Schröder auf seiner Reise von einem „nationalen Interesse“ Deutschlands an der EU-Erweiterung.

Schröder weiß, dass solche Sätze in den Beitrittsländern gemischte Gefühle auslösen. Sein Programm für den knapp siebenstündigen Ausflug nach Tschechien kombiniert darum Geschäft und Geschichte: Auf eine Werksführung bei der VW-Tochter Škoda folgt der Besuch der Synagoge und der Versöhnungsbibliothek in Liberec (Reichenberg), der einstigen Hauptstadt der Sudetendeutschen. Dass dem Kanzler die Autos vertrauter sind als die Historie, zeigt ein Fauxpas, wie er Schröder gelegentlich unterläuft, wenn er sich als besonders geschichtsbewusst präsentieren will. An der Niederschlagung des „Prager Frühling“ seien „leider auch Deutsche“ beteiligt gewesen, sagt er und ihn bewege, dass er just am 21. Jahrestag der Ereignisse in Tschechien sei. Sanft korrigiert da der tschechische Dolmetscher, der August 1968 liege bereits 33 Jahre zurück.

Beim Škoda-Besuch in Mladá Boleslav wird Schröder von einem alten Bekannten aus Niedersachsen empfangen. Mit wehender Krawatte (blau mit roten Rennautos) steht VW-Chef Ferdinand Piëch vor dem Werkseingang. Für die Fotografen lehnt der Autokanzler sich mal an blaue, mal an gelbe Kotflügel und produziert Bilder mit Botschaft: Die EU-Erweiterung bringt Investitionen. 22.000 Menschen beschäftigt Škoda und ist damit das größte Unternehmen des Landes, 80 Prozent der Autos gehen in den Export. Doch die Firma ist eine Ausnahme – und die Furcht in Tschechien groß, bloß das Hinterland zu sein für West-Unternehmen, die nur absetzen und nicht investieren wollen.

Beim Gespräch mit Tschechiens Ministerpräsident Miloš Zeman versucht der Kanzler, der zweiten Befürchtung der Gastgeber zu begegnen: der mächtige Nachbar Deutschland könnte im Deckmantel der EU tschechische Innenpolitik bestimmen. Bei den Bedingungen für die Aufnahme Tschechiens „ist klar, dass es keine unsachlichen Hindernisse geben wird“, sagt Schröder mit Blick auf das AKW Temelín. Die deutsche Regierung sei bekanntermaßen für den Atomausstieg, aber „die tschechische Regierung entscheidet souverän über ihre Energiepolitik“.

Hier zeigt sich, wie viel Schröder mitgenommen hat aus seinem Treffen mit den acht Intellektuellen am Vorabend in Halle. Weil die Tschechen sich lange fremden Mächten beugen mussten, fürchteten sie die EU als externe Macht, hatte Michal Illner von der Akademie der Wissenschaften gewarnt. Auch seine Kollegen aus Polen und Ungarn sprachen von den Ängsten, nach nur 10 Jahren in Freiheit und Souveränität schon wieder ein Stück dieser Kostbarkeiten an Brüssel abtreten zu müssen.

Schröder hatte bei diesem Abend im Händel-Haus auf seine dröhende Zuversicht fast völlig verzichtet, mit der er draußen auf den Plätzen für die EU-Erweiterung wirbt. Stattdessen hat er zugehört und wenig gesagt. Aber die Anregungen aus dem Gespräch greift er in Tschechien immer wieder auf. Es wirkt, als hätte der Nachfolger Helmut Kohls inzwischen Gefallen gefunden am großen Feld Europa. Fragt man ihn selbst, ob dieser Eindruck stimmt, sagt er: „Ja, das ist richtig, das hat mit der Rolle zu tun, die alle europäischen Partner Deutschland zuweisen.“ Das ist nun wieder eine typische Schröder-Empfindung, die undiplomatisch ausgedrückt heißt: Weil Deutschland wichtig ist in Europa und ich wichtig bin in Deutschland, macht mir Europa Spaß.