Die Witwen von Lipowka

Achthundert Kilometer südöstlich von Moskau liegt ein so genanntes Wartedorf. Doch bis die letzten alten Bewohner gestorben sind, brummt hier das Leben

von MAJA NOWAK

Pjotr ist 81 und hat noch nie getrunken. Dieser Tatsache begegnet man im Dorf bis heute mit einhelliger Verwunderung. Auch seine Liebeseinfälle gelten als überraschende Abweichungen vom dörflichen Benimm. Vor einem Jahr etwa lag seine Frau Mascha mit furchtbaren Zahnschmerzen und dicker Wange auf dem Sofa. Gerührt sah sie, den Kopf in eine Handfläche gestützt, auf Pjotr, der seit vielen Stunden vor ihr stand und Akkordeon spielte. Er hatte dabei das schmerzverzerrte Gesicht, das man bei Mascha vermisste. Jeder im Dorf war am Fenster des Hauses vorbeigegangen und hatte die Szene beobachtet. Gesprochen wurde darüber nicht. Schlimm genug, dass Pjotr die Feldarbeit liegen gelassen hatte . . .

Achthundert Kilometer südöstlich von Moskau im Gebiet Rjesan ist die Gegend flach und die Wälder sind weit. Inmitten dieser Landschaft liegt ein Dorf, das den Namen des Baumes trägt, der hier am häufigsten anzutreffen ist: Lipowka, die Linde. Die Holzhäuser des Dorfes sehen aus wie Schiffe bei Seegang. Zur Seite oder nach vorn geneigt, blicken sie in die Landschaft.

Schenja ist mit 68 Jahren die jüngste Bewohnerin, Nastja mit 103 die Älteste. Einige Uralte kennen noch den Zaren und verbreiten bis heute seinen Mythos. Der Rest schwört auf die Kolchose, die früher den Lebensunterhalt des Dorfes sicherte. Die Skelette der Traktoren und Mähdrescher stehen verrostet im Wald. Seit dem Wegfall staatlicher Unterstützung ist das Dorf auf ein Stadium der Selbstversorgung zurückgesunken, das an Verhältnisse vor hundert Jahren erinnert. Wer Pech hat, muss fünfzig Meter bis zum nächsten Brunnen laufen, denn die Wasserstellen an den Wegen sind weit gestreut. Die Tür des einzigen Geschäftes ist vernagelt, der medizinische Versorgungspunkt zusammengebrochen, der Priester davongelaufen. Das Feld hinterm Haus, der Fluss und der Wald sind die Nahrungsquellen, zu denen die Dorfbewohner zurückkehrten. Sie ernähren sich von Kartoffeln, Gemüse, Fisch, Pilzen, gepökeltem Schweinefleisch, Milch. Alle haben einige Ziegen und Schafe, wenige ein Schwein oder eine Kuh. Die Brücke zum Nachbardorf liegt vom Wintereis zerdrückt im Fluss, seit zehn Jahren ist Lipowka von anderen Orten abgeschnitten.

Die Einwohner haben sich dennoch mit den Verhältnissen arrangiert. Nach anfänglicher Irritation ist ihnen jetzt eher eine gewisse Freude über die Freiheit der Umstände anzumerken. Ein wenig geht es hier zu, als ob endlich jeder tun und lassen kann, was er schon immer wollte. Die Überlebensarbeit ist die einzige Uhr, die hier tickt. Und die richtet sich nach der Natur. Das Feld umgraben, sähen, ernten, das Heu hereinbringen, die Tiere versorgen, Pilze sammeln, fischen. Dabei ist es jedem selbst überlassen, wann und wie schnell er seine Dinge tut. Satt werden hier alle, und während im Winter in den Städten schon mal die Heizwerke ausfallen, reicht das Holz des Waldes für Lipowka noch Jahrhunderte.

Seit vielen Jahren herrscht hier ein vom Wodka geschaffenes Matriarchat. Nur wenige Männer überlebten den Dauersuff; die Frauenquote liegt bei neunzig Prozent. Für die Behörden existiert Lipowka nur noch als „Wartedorf“, die offizielle Bezeichnung für eine Gemeinde, die langsam ausstirbt. Doch in Lipowka sind nicht nur die 85 Alten noch sehr lebendig, sondern auch die Toten. Sieben vom Wodka besiegte Großväter wurden den Behörden unterschlagen und ruhen friedlich auf dem kleinen Waldfriedhof. Ihre Rente kassieren die Witwen. Einen schönen Tag können sie sich damit nicht machen – es geht ums Prinzip. Die Menschen fühlen sich vergessen, und die pfiffige Rache russischer Bäuerinnen ist nicht zu unterschätzen. Besonders wenn Baba Luba, eine 86-jährige Zigeunerschönheit auf krummen Beinen, ihre Hand im Spiel hat.

Baba Luba ist in Lipowka Hohes Gericht, Kartenlegerin und beste Schnapsbrennerin in einem. Die Geschichte, wie sie einmal einen Diebstahl aufklärte, wird noch heute gern erzählt. 1993 hatte eine Babuschka, die Brot kaufen wollte, auf dem Weg zur Mühle ihre Börse verloren. Sie lief den Weg zurück, doch das Geld war verschwunden. Baba Luba legte eine Stunde lang konzentriert die Karten, murmelte, schaute und rief schließlich: „Ich sehe den Dieb. Ich kenne ihn!“ Drohend fügte sie hinzu: „Wenn er sich nicht selbst meldet oder die Börse zurücklegt, werde ich seinen Namen preisgeben und er wird aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen.“ Rasch hatte sich die Nachricht im ganzen Dorf verbreitet. Am nächsten Morgen lag das Geld wieder vor der Tür der Bestohlenen. Baba Luba, kürzlich befragt, wer denn nun der Dieb gewesen sei, entrüstete sich: „Woher soll ich das wissen?“

Obwohl das Dorf von Frauen geführt wird, bleiben bestimmte Aktionen in Männerhand. So auch 1994, als die ohnehin schwache Stromspannung des Dorfes plötzlich noch mehr nachließ und man schließlich die Ursache entdeckte. Ein dubioser Fremder hatte sich in ein halb verfallenes Haus am Rande des Dorfes einquartiert. Man vermutete, er sei ein Mafioso und würde sich vor der „Familie“ verstecken. Zur Unterhaltung hatte er sich drei Damen mitgebracht, und eine Geräuschorgie erfüllte seitdem diesen Zipfel des Dorfes. Die Einwohner wären diese Neuheit gern wieder losgeworden, hatten aber Angst vor dem Unbekannten. Doch als man das abgeklemmte Stromkabel, die Ursache für den Dämmerzustand im Dorf, aus seinem Haus ragen sah, lief das Fass des Zornes über.

Baba Luba trommelte die letzten wackeren, wenn auch wackligen Großväter zusammen. Nach einer halben Stunde verließen diese abgefüllt mit dem besten Selbstgebrannten Lubas Haus. In ihren Augen blinkte hochprozentige Motivation – ein Wunder, dass sie nicht sofort umfielen. Am Haus der Sünde angekommen, wummerte Wasja, damals 78, mit seinem Stock gegen die Tür. Die Großväter stürmten das Haus. Es krachte, es schrie, und man war nicht sicher, wer gerade Prügel bezog. Als die alten Männer schwer atmend das Haus verließen, wirkten sie seltsam nüchtern, und man hätte ihren Gang als stolz bezeichnen können. Schnurstracks gingen die Helden Lipowkas den Weg zurück zu Baba Luba, um weiteren Schnaps als Belohnung in Empfang zu nehmen. Der Mafioso verschwand kurze Zeit darauf für immer.

Neben Luba, dem Dorfoberhaupt, gibt es Sirfa, die Heilerin. Sie ist spindeldürr und hat ein griesgrämiges Gesicht. Seit dem Abgang des Arztes besitzt sie die medizinische Alleingewalt. Wird jemand krank, stapft sie mit der Bibel unterm Arm zu ihrem Patienten und betrachtet die kranke Stelle mit Verachtung. Sie murmelt Gebete und spuckt in geheimnisvollen Abständen auf den Boden. Schließlich weist Sirfa mit dem Zeigefinger auf den Spuckefleck und sagt mürrisch: „Begrabt die Krankheit!“

Alle sind mit dieser Behandlung äußerst zufrieden. Länger als drei Tage lag in Lipowka bisher keiner auf dem Krankenlager. Ab dem vierten Tag gilt es als Sterbebett. Ein Erfahrungswert, der zur Regel wurde, bis Marfa mit 84 Jahren schwer erkrankte. Auch von ihr verabschiedeten sich am vierten Tag alle. Danach wechselten die Frauen sich ab in der Sterbehilfe. Am vierzehnten Tag morgens jedoch stand die völlig abgemagerte Marfa wieder auf und lebte weiter. Mehrere Tage sprach niemand ein Wort mit ihr. Man nimmt es Marfa bis heute übel, dass sie die Regel brach und nicht starb. Regeln sind in Lipowka so wichtig wie der Glaube an Gott und mitunter wichtiger als das Leben selbst.

Eine alleinstehende Frau gilt in Lipowka bis heute als unakzeptabel, eine Alleinerziehende als unverzeihliche Sünderin. Erst mit der Heirat und dem Gebären ehelicher Kinder tritt eine Frau aus dem Status der Nichtbedeutung heraus. Und ein zweijähriger Junge hat in jedem Fall mehr Mitspracherecht als eine Sechzehnjährige. Die einzige Möglichkeit für eine Frau, selbstbestimmt und allein zu leben, ist ihre Witwenschaft. Bei vielen Lipowkaer Frauen ist Erleichterung über diesen erreichten Status zu bemerken, sobald sie von ihrer Ehe berichten. „Oi,oi,oi, als mein Wowka noch lebte“, klagt Olga, „das war eine Arbeit! Er lag den ganzen Tag besoffen auf dem Sofa, und ich musste den Hof führen und ihn auch noch bedienen. Geholfen hat er nur selten. Jetzt muss ich nur noch für mich sorgen. Wunderbar.“

„Meiner war ein guter Mann“, sagt Mascha. „Leider war er immer betrunken. Ich hatte oft Angst um ihn, wenn er mit den Kühen nicht nach Hause kam. Ich habe ihn dann die ganze Nacht gesucht, fand ihn irgendwo schlafend, und die Tiere hatten sich im Wald verirrt. Jetzt habe ich mehr Muße.“ Auf die Frage, warum die Männer so viel trinken, sagt sie vorsichtig: „Vielleicht halten sie das Leben schwerer aus.“

Die Solidarität reicht so weit wie die Kraft der Alten. Nahrung wird ausgetauscht, Kranke und deren Tiere werden versorgt, und Baba Pascha, die im Winter nicht gern allein ist, klagt schon einmal als Nachbarschaftshilfe eine Übernachtung auf ihrem Küchenofen ein. Die Winter sind hart. Minus 45 Grad, eingeschneit, das Wasser gefroren, monatelange Stille. Vergebens versuchen die erwachsenen Kinder, ihre Eltern in die Stadt zu holen. Die Alten lieben dieses Leben. Der allabendliche Stolz auf die Arbeit ist geblieben. Alles geht etwas langsamer. Wenn man früher zwei volle Eimer Wasser in einem Gang von der Straße zum Haus trug, so schlurft man heute mit dem Milchkännchen fünfzigmal. Das Ergebnis ist dasselbe, und Zeit haben hier alle.

Abends treffen sich die Alten vor den drei übrig gebliebenen Fernsehern in Lipowka und begutachten die Welt der Reichen und Schönen in spanischen Soaps mit einem russischen Sprecher. Es wird mitgelitten, gebangt und geweint, wenn ein Darsteller mit vierzig stirbt, er seinen Vater noch nie gesehen hat, betrogen wird oder ihm sonstige Unbill zustößt. Man schnieft sich ein und freut sich am Traurigsein. Leben möchte so jedoch niemand. Baba Luba fragte neulich: „Haben die denn keine Dörfer, wo sie gesund werden können?“

MAJA NOWAK lebt als freie Autorin in Berlin