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In Seenplattenlage

Wessis wissen die Reize Brandenburgs nicht genug zu schätzen. Dabei hat das Dorf Himmelpfort einen Draht zum Nikolaus

Der Deutsche Sommer, Teil VI: Stellen Sie sich vor, es gibt eine Kampagne, und niemand nimmt sie wahr: Die Deutsche Zentrale für Tourismus (DZT) hat 10 Millionen in das „Jahr des Tourismus 2001“ gesteckt. Gegen den Ruf der Servicehölle trommelt sie für das „Erlebnisland Deutschland“. Wir haben uns umgeschaut und präsentieren Urlaubsorte aus deutschen Landen

von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

„Och, so ein alter Kahn!“, sagt eine Rentnerin enttäuscht, als sie über eine kleine Holzleiter die „Concordia“ besteigt. Dabei besteht der Reiz der Tour, die vor der sächsischen Rentnergruppe liegt, gerade darin, auf einem stattlichen Lastensegler aus Holz durch das Fürstenberg-Rheinsberger Seengebiet in der Uckermark achtzig Kilometer nördlich von Berlin zu fahren. Außerdem handelt es sich keineswegs um einen alten Kahn, sondern um ein Schiff, das nur alt aussieht. Am Bug steht in alter Schrift geschrieben „Anno 2000“.

Ein Bootsbauer hat die „Concordia“, einen so genannten Kaffenkahn – Kaffe steht für den markant hochgezogenen Vorder- und Achtersteven –, nach alten Vorlagen gebaut. Beginn der Tour ist die Schiffsanlegestelle in Fürstenberg, wenige Minuten entfernt vom Bahnhof. Von dort bringen der Kapitän und Reiseleiter Rainer Lippelt die Herrschaften auf den angrenzenden Baalensee, den gegenüberliegenden Schwedtsee und schließlich über die Havel bis hin zum 420 Hektar großen Stolpsee. Skeptisch blicken die etwa dreißig Rentner aus Leipzig, die auf rustikalen Holzbänken sitzen, hoch zu dem zwölf Meter langen Mast, einer gewachsenen Fichte aus Brandenburg, und dem eingerollten Segel daran. Doch trotz Windstille werden ihnen keine Ruder in die Hand gedrückt. Der Kapitän wirft den leise surrenden rapsölbetriebenen Motor an. Erst auf dem Schwedtsee ist es dann so weit: Wind kommt auf und das Segel kann gesetzt werden. Lautlos gleitet das Schiff über das Wasser. Bei einer Geschwindigkeit von etwa zwei Kilometern pro Stunde scheint die Zeit stehen zu bleiben. Am Himmel ziehen Bussarde und Möwen ihre Kreise. Ab und an taucht ein Fischadler auf. In der Region gibt es die größte Brutdichte an Fischadlerpaaren in Europa.

Reiseleiter Rainer Lippelt ist nicht ganz zufrieden mit der Idylle. Der Grund: „Es müssen mehr Wessis herkommen.“ Der Fünfzigjährige hat viele Busunternehmen in den Alten Bundesländern angeschrieben. Aus Angst, dass das Wort Brandenburg mit Rechtsextremismus gleichgesetzt werden könnte, wirbt er mit dem Begriff „mecklenburgische Seenplattenlage“. Doch die Resonanz auf seine Angebote, die von Boots-, Floß- und Draisinenfahrten auf stillgelegten Zugstrecken bis zu Wanderungen und Kanufahrten oder Wildschweinessen im Wald reichen, ist mehr als gering. „Das Problem ist“, sagt er, „dass die Wessis die Region nicht kennen.“ Dabei, so ergänzt er, biete sie sich für Wassersport geradezu an. Mit Blick auf einige vorbeifahrende Privatschiffe, die nach viel Geld aussehen, kann sich Lippelt nicht verkneifen zu sagen, dass viele Wessis „den großen Max machen“.

Als der Wind schwächer wird, fährt die „Concordia“ mit dem Rapsölmotor weiter. So erreicht das lange Boot schneller als die Stockenten, Höckerschwäne und Haubentaucher den Stolpsee. Ziel der Reise ist der einzige Ort am See, dessen Name wunderbar zu der Landschaft passt: Himmelpfort.

Das 586 Einwohner zählende Dorf Himmelpfort befindet sich im „Naturpark Uckermärkische Seen“ und macht seinem Namen alle Ehre: Es liegt auf einer schmalen Landzunge zwischen vier Seen, dem Stolpsee, dem Sidowsee, dem Moderfitzsee und dem Haussee. Im 19. Jahrhundert haben sich hier Fischer niedergelassen. Seit 1920 ist Himmelpfort Luftkurort und das Tourismusbüro wirbt damit, dass der Ort 1995 im „Lebensqualitätsatlas“ Deutschlands auf Platz 1 gelandet ist. Das heißt, Wasser- und Luftreinheit erster Güte. Am Haussee bietet sich ein idyllischer Anblick: über 200 Jahre alte Bäume, eine efeuumrankte Ruine eines im 13. Jahrhundert errichteten Zisterzienserklosters, die als Dorfkirche genutzt wird und ein Brauhaus am Schleusengraben aus dem 14. Jahrhundert. Die reine Luft der Region wird in Himmelpfort im Sommer angereichert durch die Düfte von Lavendel, Rosmarin, Minze, Melisse, Salbei, Basilikum und „Hexen- und Liebeskräutern“, die im Klosterkräutergarten am Schleusengraben wachsen. Besucher können neben Pflanzen auch Schnäpse aus Knoblauch, Kümmel, Fenchel oder Hopfen und diverse Essigsorten kaufen. Doch die Idylle trügt. Gemeinderätin Gisela Schröder weist darauf hin, dass das Brauhaus saniert werden muss und dringend ein Investor gesucht wird. Und für die Kirche, in der hinter Glas ein Modell eines Kaffenkahns steht, werden Spenden gebraucht. Denn das Mauerwerk ist an einigen Stellen feucht, in einer Ecke wächst Efeu hinein. Die Einundsechzigjährige Rentnerin erzählt von Plänen, Häuser im schwedischen Stil zu bauen, um Himmelpfort noch mehr zum Erholungsort auszubauen. Die Betonung liegt auf Erholung. „Das hier ist nichts für Ramba Zamba.“

Im Winter jedoch herrscht auf gewisse Weise Ramba Zamba. Seit 1987 beherbergt der Ort das einzige Weihnachtspostamt in den neuen Bundesländern. Alle Jahre wieder beantworten Postbedienstete und Dorfbewohner tausende von Wunschzetteln. Auch im Sommer werfen Kinder oder Erwachsene ihre Wunschzettel in den Briefkasten mit dem großen Weihnachtsmannkopf, der an der Touristeninformation wenige Meter vom Haussee entfernt hängt.

Zu DDR-Zeiten war Himmelpfort ein begehrter Ferienort. Trotz Mangel an Baumaterialien mussten immer wieder Baustopps verfügt werden. Ohne Beziehungen war es schwierig, in den Privat- oder Gewerkschaftsunterkünften oder den Betriebs- und Ferienheimen unterzukommen. Doch heute können Erholungssuchende ganz ohne „Vitamin B“ wählen zwischen Campingplätzen, günstigen Pensionszimmern oder anspruchsvollen Hotels, zwischen einer Fahrt auf der „Concordia“ oder mit einem gemieteten Kajak, Kanu, Paddel- oder Ruderboot. Über 400 Seen gibt es in der Endmoränenlandschaft der Uckermark, zudem 1.000 Kilometer markierte Wanderwege und 150 Kilometer Wasserwege.

In jedem Ort wird frischer Fisch angeboten – auch in den acht Restaurants in Himmelpfort. Nur die Preise sind äußerst unterschiedlich. Wählt man eins der Restaurants, die nach der Wende zum Teil mit viel Plastik aufgepeppt wurden, haben die Preise fast Hauptstadtniveau. Will man dagegen für günstige fünfzehn Mark leckeren gebratenen Aal oder Forelle mit einem großen Berg Bratkartoffeln essen, muss man mit einem Hausanbau vorlieb nehmen, der gerade einmal Platz für zwei Plastiktische bieten und dessen liebloses Interieur viele Westler abschrecken mag. Ähnlich verhält es sich bei einem Lokal direkt an der Schleuse, wo der schöne Garten mit Holzbänken und -tischen nur für Gesellschaften genutzt wird. Erst nach einigem Zureden darf der Kaffee auf der Wiese statt auf dem Gehweg an der Straße getrunken werden.

Bei den Übernachtungen in Privatpensionen, wo ein Doppelzimmer schon für sechzig Mark zu haben ist, sieht es ähnlich aus. Wer preiswert schlafen will, läuft Gefahr, in einem durchgelegenen Bett zu landen. Dafür bieten viele Wirtsleute günstiges Flaschenbier zum Verkauf und DDR-Fahrräder für schlappe drei Mark am Tag an.

Unverhofft stößt der Wochendausflügler bei der Umrundung des Haussees auf Überreste der DDR in Form eines ehemaligen Ferienlagers, das im Laufe der Jahre in seine Einzelteile zerlegt wurde. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wurde herausgerissen und kreuz und quer über das Gelände verteilt: Türen und Fenster der Ferienbungalows, Doppelstockbetten, Regale oder Waschbecken. Ergänzt wird das nachsozialistische Tohuwabohu durch Boten aus dem Westen. So finden sich vergilbte Ausgaben der Super-Illu mit Artikeln über „Mein erstes Westauto“ neben Anweisungen für die Betriebs- und Lagerleiter zur „Kinderferiensaison 1989“: „Die Erhaltung des Friedens, die schrittweise Fortsetzung der Abrüstung erfordern in der Klassenauseinandersetzung mit dem Imperialismus eine starke ökonomische Basis und einen festen Klassenstandpunkt, um den feindlichen Argumenten des Klassengegners wirksam entgegentreten zu können“, heißt es da, „ganz gleich, in welchem Lebensalter.“

Solche DDR-Reminiszenzen regen zu Fluchtgedanken an. Auf nach Lychen, dem 3.500 Einwohner zählenden staatlich anerkannten Erholungsort. Reste der Stadtmauer und eine gotische Feldsteinkirche künden von wechselvoller Geschichte. Wenige Meter vom Zentrum entfernt liegt der Stadtsee, wo Canadier und Kajaks vermietet werden. Wer es moderner liebt, kann sich auf eins der Hydrobikes setzen – ein kippsicheres Wasserfahrzeug made in USA. Will man nur einen Nachmittag verbringen, lohnt es sich, den See zu überqueren und in den Küstrinchener Bach hineinzupaddeln: Grün, idyllisch und ruhig. Die Reize Brandenburgs eben.

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