Vom Ende der Wolgarepublik

Am 30. August 1941 erfuhren die Wolgadeutschen, dass sie deportiert werden sollten. Sie wurden als Spione und Verräter bezeichnet. Dabei, so der Zeitzeuge Jacob Schmal, „wollten wir glühenden Herzens gegen Hitlerdeutschland marschieren“

Interview BARBARA GEIER
und ULRICH STEWEN

Am 28. August 1941 setzte Stalin seine Unterschrift unter einen Erlass, der das Ende der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen bedeutete. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Jacob Schmal: Für die Bewohner der damaligen Wolgarepublik war der 28. August wohl ein Tag wie jeder andere. Woher sollten sie auch wissen, dass mit diesem Tag ihr Schicksal eine dramatische Wende nehmen sollte? Der Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets erschien ja erst zwei Tage später in der deutschsprachigen Republikzeitung Nachrichten und der russischen Bolschewik.

Ahnte niemand etwas?

Nein. Die Rundfunkgeräte waren ja schon in den Wochen zuvor allesamt konfisziert worden, so dass die Menschen auf den Drahtfunk in ihren Wohnungen angewiesen waren – also auf das offizielle Programm. Aber auch dort gab es keine Verlautbarungen. Und doch hatten viele von uns ein ungutes Gefühl. Immerhin hatte zwei Monate zuvor Deutschland die Sowjetunion überfallen – und wir waren Deutsche in der Sowjetunion. Ein Dilemma, über das niemand zu sprechen wagte.

Waren Sie und die anderen Wolgadeutschen überhaupt über den Kriegsverlauf informiert?

In der Redaktion erhielten wir täglich die Mitteilungen des Sowinform-Büros, des sowjetischen Informationsbüros in Moskau. Wir wussten also: Die Hitlerdeutschen marschierten überraschend schnell vor. Und in der Wolgarepublik ging das Wort um: Wir tragen das Totenhemd. Das heißt: Noch weiß niemand, was geschehen wird, aber Schreckliches zeichnet sich ab.

Es war grauenvoll, zu erleben, wie die Faschisten ein Gebiet nach dem anderen einnahmen und bereits in Richtung Moskau marschierten. In den letzten Augusttagen – wenige Tage vor unserer Deportation – standen sie bereits vor Moskau.

Sprachen Sie in der Wolgarepublik über den Vormarsch der Deutschen miteinander?

Das war kein Thema in der Redaktion und in der Bevölkerung auch nicht. Wie gewohnt sendeten wir die Nachrichten aus Moskau. Die Wolgadeutschen waren sehr verschlossen, auf sich bezogen und kümmerten sich wenig um andere Dinge als ihre Landwirtschaft und ihr eigenes Sozialwesen. Dass es Spione für Hitler gegeben haben soll, war für sie völlig unverständlich und absurd.

Als der Erlass am 30. August veröffentlicht wurde, verbreitete sich die Information wie ein Lauffeuer. Auch unsere Nachbarn, mit denen wir in der Wolgarepublik lebten – Russen und Angehörige anderer Nationen – waren völlig konsterniert. Ich erinnere mich noch, dass die Menschen, die mit uns zusammenlebten und ihr Brot verdienten, völlig verschreckt waren wegen der Beschuldigungen in dem Erlass. Alle waren sehr, sehr bekümmert. Doch es gab kein Aufbegehren, keine Demonstrationen gegen die Sowjetmacht, auch bei uns im Wolgadeutschen Rundfunk geschah nichts.

Es gab nicht den geringsten Ansatz von Widerstand?

Ich glaube, das Thema war tabu. Es stand ja nicht im Erlass, wohin wir umgesiedelt werden sollten. Im Übrigen war völlig ausgeschlossen, dass jemand sich der Deportation widersetzte. Die Hauptstadt Engels und die meisten Dörfer der Republik waren besetzt von NKWD-Leuten.

Wie war damals das Verhältnis zwischen deutschen und anderen Einwohnern der Wolgarepublik?

Es war ein durch und durch friedliches Zusammenleben. Jedenfalls kann ich mich nicht an irgendwelche Spannungen zwischen den Nationen erinnern. Unsere Nachbarn in der Wolgarepublik waren zumeist Russen, aber es gab auch Angehörige kleinerer Nationen.

Was verband Sie?

Ein gemeinsames Schicksal. Als in der Zeit der Entkulakisierung die wohlhabenden Bauern enteignet und verjagt wurden, gab es sowohl russische als auch deutsche Bauern unter den Opfern. Sie haben also in gleicher Weise gelitten. Bei den Deutschen herrschte zugegebenermaßen eine gewisse Distanz zu den anderen Nationen. Die Russen galten als etwas rückständig. Wir hatten beispielsweise fünf Hochschulen in der Wolgarepublik, während russische Studenten ziemlich weit reisen mussten, um studieren zu können. Doch das war nebensächlich.

Als die Deportation begann – in der Nacht zum 3. September verließen die ersten 50 Waggons mit je 50 eingepferchten Menschen die Stadt Engels – da standen unsere Freunde und Nachbarn, Russen und andere, beiseite, winkten uns verzweifelt zu – und weinten.

Fühlten Sie, wie Ihnen von Stalin ja vorgeworfen wurde, irgendwelche Sympathien für die vorrückende deutsche Wehrmacht?

Meine Altersgenossen und ich waren allesamt im Sinne der Partei als Komsomolzen erzogen worden, und wir hatten nur eins im Sinn: diesen verdammten Krieg zu beenden. Die wehrpflichtigen jungen Wolgadeutschen meldeten sich deshalb fast ausnahmslos an die Front – nicht weil sie dem sowjetischen Staat so ergeben waren, nein, wir wollten glühenden Herzens gegen Hitlerdeutschland marschieren, denn der Vormarsch der deutschen Truppen machte uns allen Angst.

Wurde der Einsatz gewürdigt?

Uns fiel auf, dass in der sowjetischen Presse mit keinem Wort erwähnt wurde, dass auch wolgadeutsche Soldaten an der Front kämpften. Mit einer einzigen Ausnahme: Am 24. August erschien die Jugendzeitung Komsomolskaja Prawda mit einem ganzseitigen Beitrag über den wolgadeutschen Soldaten Heinrich Hoffmann, der sich den deutschen Truppen widersetzt hatte und von ihnen getötet worden war. Zum ersten Mal wurde in einem sowjetischen Blatt überhaupt erwähnt, dass wolgadeutsche Soldaten in der Roten Armee kämpften. Wir waren zunächst sehr erleichtert und glaubten an einen Sinneswandel bei Armee und Regierung. Doch das war ein Fehler. Die wolgadeutschen Soldaten wurden nach und nach aus der Armee entfernt, viele ebenfalls nach Sibirien deportiert, andere endeten in Baubrigaden und mussten dort Schwerstarbeit verrichten.

Auch in Sibirien angekommen, hegten Sie noch Hoffnung auf einen erträglichen Ausgang der Vertreibungsaktion?

Von den Lagern, in die wir dann interniert wurden, hatte niemand auch nur eine Vorahnung. Wir stellten uns vor, wir kämen nach Sibirien in landreiche Gebiete. Wir wussten ja, dass Sibirien groß ist und dass dort tausende und abertausende Leute ihr Brot verdienen könnten.

Wir glaubten auch, dass die jungen Leute doch noch an die Front geschickt werden könnten. Wir hofften doch immer noch, wir seien dort nötig und könnten in der Sowjetarmee nützlich sein. Wissen Sie, solange noch Hoffnung ist, lebt der Mensch. Wir setzten unsere Hoffnung darauf, dass sich die Spitze der Roten Armee besinnen würde.

Wussten Sie zu jener Zeit, dass es in Sibirien bereits deutsche Siedlungen gab?

Ja, das wussten wir. Es gab dort Deutsche, die überwiegend aus dem Wolgagebiet stammten und in den Zwanzigerjahren und früher in landreichen Gebieten Sibiriens angesiedelt waren und dort ihre Kantone, wie wir an der Wolga sagten, gegründet hatten. Wir wussten, dass im Gebiet Omsk eine ganze Reihe von Kolonien und deutschen Dörfern existierte. Es gab Gerüchte unter den Deportierten, dass wir eventuell dorthin ausgesiedelt werden würden. Manche hatten Glück und erreichten die deutschen Siedlungen, andere nicht.

Was waren die wirklichen Gründe Stalins zur Deportation der Deutschen?

Ich habe dafür keine Belege, aber ich glaube, dass Stalin und seine Berater schon längere Zeit die Wolgadeutschen im Visier hatten. Über zwanzig Jahre zuvor – 1918 – hatte Lenin einen Erlass zur Gründung eines deutschen autonomen Gebiets an der Wolga unterzeichnet – des ersten autonomen Gebietes für eine der vielen Nationalitäten der Sowjetunion überhaupt. Später las ich, dass zwei Gründe dafür ausschlaggebend gewesen seien. Zum einen wollte man den Deutschen dort eine selbstständige Existenz geben. In erster Linie aber erwartete man politische Unterstützung von den Deutschen an der Wolga. Die Sowjetunion hatte zu jener Zeit noch im Sinn, die Revolution nach Deutschland zu tragen, um einen sozialistischen deutschen Staat zu schaffen. In diesem Zusammenhang hatte angeblich die Sowjetregierung all ihre Pläne auf die Wolgadeutschen konzentriert.