JAPAN: HANDELSPOLITIK HILFT NICHT MEHR GEGEN DIE ARBEITSLOSIGKEIT
: Rache für die Zeitverschwendung

Wie viele Arbeitslose es in Japan tatsächlich gibt, weiß dort niemand mit Bestimmtheit zu sagen. Und die Politik will es lieber nicht zu genau wissen, sonst hätte sie schon längst eines der international erprobten Erfassungssysteme übernommen, die den Vergleich mit anderen Ländern erlauben. Aber selbst die Umfragen, die die Regierung in Tokio veranstaltet, zeigen: Der Zuwachs ist enorm. Grob geschätzt, hat sich die Arbeitslosigkeit in einem Jahrzehnt verfünffacht. Und einen Ausweg aus den Grundproblemen der japanischen Arbeitsmarktpolitik hat noch kein Kabinett gefunden. Dazu wäre ein Reformweg nötig, der nicht nur in ein „Tal der Tränen“ führen, sondern in eine regelrechte Tiefebene münden würde.

Da ist vor allem das Verschweigen der zwei Produktivitäten in Japans Wirtschaft. Der Exportsektor ist international konkurrenzfähig und auf der Höhe der Zeit, während die Binnenwirtschaft Jahrzehnte hinter der Entwicklung in anderen Industrieländern zurückliegt. So ist auch nicht die Export-, sondern die Binnenwirtschaft der stete Quell der zunehmenden Arbeitslosigkeit. Die vielen Konjunkturprogramme, die zehn Jahre lang die Situation verbessern sollten, haben nicht geholfen, weil damit einfach der Status quo dieser Unternehmen erhalten wurde, ohne dass die Gelder für echte Modernisierungs- und Rationalisierungsinvestitionen ausgegeben wurden.

Doch über Produktivität räsonieren japanische Politiker höchst ungern, weil sie direkt auf die Funktionsweise eines abenteuerlichen volkswirtschaftlichen Mechanismus zielt: Mit den Exporterlösen wird die unproduktive Binnenwirtschaft subventioniert. Gleichzeitig verhindern Importbeschränkungen, dass rückständige Wirtschaftsbereiche – die inländische Industrie, der Handel, das Handwerk und die Landwirtschaft – unter Konkurrenzdruck geraten. Bis heute gehören deswegen in Japan Handels- und Sozialpolitik untrennbar zusammen. Der Exportsektor mit den weltbekannten Markennamen, vom Ausland aus oft als der entscheidende Teil von Japans Wirtschaft angesehen, war und ist Träger der lebenslangen Beschäftigung, die nun langsam dem Ende zugeht. Doch die Bedeutung dieser „Hochproduktivitätsopfer“ ist begrenzt. Viel wichtiger für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit sind die „Niedrigproduktivitätsopfer“ aus der Binnenwirtschaft.

Dennoch lassen sich Modernisierungszwänge nicht länger vermeiden. Im Gegenteil: Bedingt durch die langsame wirtschaftliche Öffnung des Landes und auch durch „Sickereffekte“ der eigenen Exportindustrie nimmt der Wettbewerb auch auf den Inlandsmärkten allmählich zu. Hier wird in den kommenden Jahren die wirtschaftliche Dynamik am stärksten sein, hier wird die Arbeitslosigkeit am schnellsten zunehmen, hauptsächlich hier werden die Globalisierungsgegner in Japan ihre Unterstützung finden, und vor allem hier wird die fehlende soziale Sicherheit zu Verzweiflung und Resignation führen.

An die unzureichende Wettbewerbsförderung schließt hier eine für die beruflichen Erfordernisse oft untaugliches Bildungssystem an. Es vermittelt Allgemein- und Grundlagenwissen, nicht aber „Training on the Job“. Die Kernfähigkeiten für den Beruf vermittelte bisher der Arbeitgeber im ersten, zweiten Berufsjahr. Das war kein Problem, wie eine de facto oder explizit zugesicherte lebenslange Beschäftigung herrschte. Alle paar Jahre die Stelle oder gar den Beruf zu wechseln ist in diesem Konzept nicht möglich – ein strukturelles Hindernis, das nur eine grundlegende Umgestaltung und Verstaatlichung der beruflichen Bildung überwinden kann.

Nicht nur die japanische Wirtschaft, sondern auch die japanische Arbeitsmarktpolitik muss sich einem Begriff stellen, der in den anderen Industrieländern längst zum – positiv oder negativ besetzten – Allgemeingut geworden ist: Globalisierung. Er setzt die Bereitschaft voraus, wechselseitige Abhängigkeiten zuzulassen. Doch über Jahrzehnte hat Japan von der weltwirtschaftlichen Liberalisierung profitiert, ohne sich nach innen zu modernisieren. Diese Verschwendung von Zeit und Geld rächt sich nun. Von Premierminister Koizumi abgesehen traut sich nur niemand recht, das wirklich zuzugeben. Von der größten Aufgabe ganz zu schweigen: dem Aufbau neuer sozialer Sicherungssysteme, die nicht mehr auf Wirtschaftspolitik beruhen. DIETMAR BARTZ