Die neue Unübersichtlichkeit

Der Geist der Rebellion saß bei der Mazedonien-Entscheidung diesmal nicht bei den Grünen, sondern bei SPD, FDP und insbesondere bei der Union

aus Berlin SEVERIN WEILAND

Sollen die anderen ihren Anteil am Zustandekommen des Mazedonien-Beschlusses doch hervorheben. Gerhard Schröder will es nicht. Sagt der Kanzler und betont, er sei „am Ergebnis interessiert“. Und fügt hinzu, als hätte dies irgendwer in den letzten Wochen in Frage gestellt: „Das war ich immer.“ Schröder gibt sich staatsmännisch. Keine Angriffe gegen die Opposition, kein kleinliches Aufrechnen. Hat er überhaupt eine andere Wahl? Kaum. Schließlich soll ihn die Zustimmung der Opposition an diesem Tag vor einer Niederlage bewahren. Nur eine, wie er sagt, „kleine Polemik“ leistet sich Schröder während seiner Rede im Bundestag und wendet sich an Gregor Gysi, der in Berlin so etwas wie ein kleiner Kanzler werden will, Regierender Bürgermeister nämlich, und doch wohl nur auf einem Senatorenstuhl landen wird. Die von Gysi vorgetragene Kritik an einem fehlenden UN-Mandat verleitet Schröder zu dem Vergleich, Gysi glaube, dass „die Weltgeschichte ein Amtsgericht“ sei. Dass dem nicht so sei, „werden Sie auch noch merken“. Da kommt Gelächter auf.

Das Ergebnis, das dann eine Stunde später vom Bundestagspräsidenten verkündet wird, kann den Kanzler zumindest in einem Punkt zufrieden stellen: Die Entsendungsvorlage bekommt eine Mehrheit – und die ersten Soldaten der Bundeswehr können noch am Abend nach Mazedonien abfliegen. Alles andere aber dürfte Gerhard Schröder kaum erheitern. Rot-Grün hat keine eigene Mehrheit zustande gebracht – vor allem sind da die 19 SPD-Parlamentarier, die mit Nein gestimmt haben. Ein Trost mag es für Schröder sein, dass ein uneinheitliches Bild, bis auf die PDS, auch Union und FDP abgeben. Damit war zwar gerechnet worden. Überrascht ist so mancher aber über die stattliche Zahl an Gegenstimmen.

Noch am Morgen war auf den Gängen des Bundestages darüber spekuliert worden, ob sich die Zahl der Gegner, die sich am Dienstagabend während der Fraktionssitzungen abgezeichnet hatte, nicht doch noch verringern würde.

Nach der Abstimmung bemühte sich jede Seite um das, was man in so einem Fall tut: das Beste aus einem schlechten Ergebnis herauszudeuten. Hans-Peter Repnik, Geschäftsführer der Unionsfraktion, meinte, aus der fehlenden Mehrheit der Regierung müssten Konsequenzen folgen – welche, ließ er offen. Wilhelm Schmidt, der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, suchte Anschluss an die Kanzlerworte: Das Votum sei erwartbar gewesen, wichtig sei die breite Mehrheit. Und Harald Friese, der zu einer Art Sprecher der Gegner innerhalb der SPD aufgestiegen war, schien auch nicht wohl in seiner Haut: man solle doch bitte das Ergebnis „tiefer hängen“.

Erstaunlich war nicht nur das Ergebnis, sondern auch der Weg dahin. Denn diesmal leisteten sich die anderen, was ansonsten die Rolle der Grünen ist: offene Kritik, offenen Widerstand gegen den Kurs der Führungen. Insbesondere bei der Union hielt der Ärger an dem Schwenk der Führung an: mehr als 60, so hieß es nach der Abstimmung, hätten mit Nein gestimmt. Das hatte sich bereits am Vorabend der Abstimmung abgezeichnet, als die Fraktionen zu ihren Sitzungen zusammengekommen war. Dort hatte sich die neue Unübersichtlichkeit, im parlamentarischen Geschäft selten genug, eingestellt. Und diesmal war nicht vor den Türen der Grünen, sondern vor denen der FDP, der SPD und der Union unter den Journalisten gerechnet worden: Reicht es, reicht es nicht?

Bei den Grünen hatte es ein fast schon rituelles Aufflackern des alten aufmüpfigen Geistes gegeben. Als die Gegner aus dem Sitzungssaal kamen, sah man ihnen an den geröteten Gesichtern an, dass streckenweise erhitzt debattiert worden war. Doch die Mehrheit für einen Einsatz war von Anfang an klar. Joschka Fischer sprach, ausführlich und lange. Auch Claudia Roth, nicht aber Fritz Kuhn, ihr Partner an der Spitze der Partei, begründeten das Ja der Parteirats zum Mazedonien-Einsatz. Jürgen Trittin empfahl den Kritikern, sich zu enthalten. Doch die lehnten ab.

Die Zahl der grünen Neinsager blieb an diesem Abend überschaubar: es waren vier. Christian Ströbele, Annelie Buntenbach, Winfried Hermann und Christian Simmert. Mit Steffi Lemke und Irmingard Schewe-Gerigk hatten zwei weitere Abgeordnete ihre Enthaltung bekundet. Von einer abwesenden Abgeordneten hieß es, dass sie möglicherweise noch Nein stimmen werde, eine andere mutmaßliche Gegnerin weilte in Vietnam. Dass Roth für den Einsatz plädierte, dürfte ihr bei den Linken, die sie einst zu ihrer Vertreterin an der Seite des Realos Kuhn machten, wohl nicht schaden. Heißt es.

Dass die Grünen in der Mazedonien-Debatte den geringsten Wirbel entfachten, erstaunte auch Eckhardt Barthel, einen Abgeordneten der SPD und Befürworter des Einsatzes. Bereits am Montagabend hatten die Fraktionen der Grünen und der Sozialdemokraten zusammen getagt. Zahlreich meldeten sich die Gegner zu Wort, erinnerte sich Barthel: „Aber es sind fast ausschließlich Stimmen aus unserer Fraktion gewesen. Wir haben immer gewartet, dass sich da jetzt mal die Grünen melden“.

Immerhin war es gelungen, eine Reihe der ursprünglich bis zu 30 Gegner in der SPD auf die Unterstützerseite zu ziehen – durch einen Entschließungsantrag beider Fraktionen, der eine Verlängerung des Balkan-Stabilitätspakt über 2003 hinaus verlangt. Es reichte, um ein gutes Dutzend zu überzeugen. Doch zur rot-grünen Mehrheit reichte es nicht.