Schwankende Existenzen

Was ist ein Korantext, was ist Mann, was Frau? Beim „Tanz im August“-Festival entwirft die belgische Kompanie „Les Ballets C. de la B.“ virtuose Körperbilder und stellt mit „Rien de Rien“ Geschlechter- und andere kulturelle Zuschreibungen in Frage

von JANA SITTNICK

Der Raum ist das Innere einer Moschee, sagt man uns. Also soll er heilig sein und getrennt von der Außenwelt; wer hier einkehrt, sucht Gott. Man bewegt sich am besten lautlos und unsichtbar. Die Moschee aber gibt es nicht, denn hier ist Theater. Das „Sakrale“ reduziert sich auf ein spärliches Zitat: Man sieht arabische Schriftzeichen an der braun vertäfelten Wand, ein verziertes Fenstergitter und Orientteppiche hinter dem Parkett. Darauf rutschen Menschen entlang – Stirn, Nase, Geschlecht am Boden, als wollten sie mit ihm kopulieren. Andere wackeln lasziv mit den Hüften, fliegen, springen, fallen, ziehen sich aus und verüben Brudermord.

Gesungen wird auch. Die belgische Kompanie „Les Ballets C. de la B.“ stellte sich mit einem furiosen, tragikomischen Stück zum „Tanz im August“ vor. „Rien de Rien“ nennt der 25-jährige Sidi Larbi Cherkaoui, selbst Tänzer der 1984 gegründeten Tanztheatergruppe aus Gent, sein choreografisches Debüt. „Rien de Rien“ in Anlehnung an Edith Piafs größten Hit in den Fünfzigerjahren, als sie davon sang, alles Vergangene „wegfegen“ zu wollen, um ihr Leben mit der neuen Liebe von vorn zu beginnen: „Je repars à zéro“, ich gehe an den Punkt null zurück.

Cherkaoui thematisiert diesen Prozess des unentwegten Selbst-Entwurfs, der keine Festschreibung von Identität mehr erlaubt und noch als ständiges Fluten betört. Was ist Moschee, fragt er, was ist ein Korantext, was ist Mann, was Frau?

Niemand will die Antwort geben, und man einigt sich auf ein genussvolles Infragestellen der anerzogenen Vorstellungen, an diesem Mittwochabend in der ausverkauften Schaubühne. Die Darsteller, drei Männer, drei Frauen, tanzen dazu, hypergelenkig und schlängelnd, hinreißend synchron in Gruppe oder einzeln und gegeneinander versetzt. Immer füllen sie den Raum der falschen Moschee aus, so dass der Eindruck entsteht, auch er sei ein Körper, der sich bewegt.

Auf einer kleinen Treppe, rechts am Bühnenrand, sitzt derweil der Cellist Roel Dieltiens und spielt Stücke von Sofia Gubaidulina, György Ligeti und Zoltán Kodály. Das Cellospiel gibt dem Tanz eine Struktur, ohne die fragmentarische Erzählung an den Rand zu drängen. Keine der in der „Moschee“ zusammengedrängten Personen – eine alternde Ballerina, ein Teen-Girl, drei junge diffuse Männer, von denen wenigstens einer Jesus Christus sein will, und eine jamaikanische Geschichtenerzählerin – kann sich ihrer Identität versichern, geschweige denn der Kontinuität einer Geschichte. Und so sieht man erotische Annäherungen, die nicht über die Grenze des Unverbindlichen hinausgelangen, wilden Lambada-Tanz, der im Unfall sein jähes Ende findet, gregorianisches Live-Singen (!) mit homophilen Gesten und ein delirierendes Sprechen, das lustig ist und die Idee der Kommunikation ad absurdum führt. Die Figuren reden scheinbar nur noch um des Redens willen, das wie abgekoppelt von jeder Bedeutung in den Raum schallt.

Die „Ballets C. de la B.“ beweisen eine erstaunliche Präsenz auf der Bühne, ihr Spiel, das Tanz mit Sprache und Gesang verbindet, ist virtuos, klar und amüsant im besten Sinne. Wenn die strenge Ballerina sich mit weißen Stoffbahnen flügelgleich und pathetisch über die Bühne schwingt, um sich kurz darauf dem jüngeren Mann in die Arme zu werfen, weiß man, es geht um „Gender-Trouble“ – ohne den üblichen Täter/Opfer-Ballast. Cherkaoui deutet auf Klischees, antrainierte Verhaltensregeln, Vorurteile, Festschreibungen. Seine Laune will er sich von der disparaten „Welt“ jedoch nicht verderben lassen. So gelingt es ihm und der Kompanie, Tanz als Portal der Schönheit begehbar zu machen.