„Wir wurden früh globalisiert“

Interview ALEXANDRA KLAUSMANN

taz: Herr Posselt, seit der Vertreibung sind jetzt mehr als 50 Jahre vergangen. Wie sieht da eigentlich das Selbstverständnis eines Sudetendeutschen aus?

Bernd Posselt: Wir sind eine Volksgruppe im Herzen Europas ohne eigenen Staat. Einerseits stellt uns das vor gewisse Schwierigkeiten, zum Beispiel muss die Landsmannschaft den Zusammenhalt zwischen verschiedenen Gruppen in verschiedenen Ländern aufrechterhalten. Andererseits können wir im Zeitalter der Globalisierung und der europäischen Einigung sehr modern wirken. Durch unser Schicksal sind wir eine schon sehr frühzeitig globalisierte Gruppe. Wir sehen uns als Bindeglied zwischen Deutschen und Tschechen nicht nur in Europa, sondern auch in anderen Teilen der Welt.

Sie sind Jahrgang 1956. Welche Rolle spielt da die Vertreibung für Sie persönlich?

Als ich geboren wurde, war die Vertreibung gerade mal zehn Jahre her. Während meiner Kindheit war also vor allem in der älteren Generation das Trauma der Vertreibung noch sehr, sehr lebendig. Unsere sudetendeutsche Identität wird auch durch die Vertreibung bestimmt, aber eben nicht hauptsächlich. Ich selbst bin eigentlich viel mehr geprägt durch die Jahrhunderte der gemeinsamen deutschen und tschechischen Kultur in Böhmen. Im Jahre 1968 bekam ich einen tschechischen Mitschüler, dessen Familie geflohen war, und da habe ich gemerkt, dass ich mit ihm viel mehr gemeinsam habe als mit vielen deutschen Kindern in meiner Klasse.

Wie hat Ihre Herkunft die Entscheidung, in die Politik zu gehen, beeinflusst?

Ich würde sagen, das war der Hauptgrund. Das zeigt sich auch an den Themen, mit denen ich mich politisch beschäftige. Themen, die andere Kollegen für brotlos halten. Ich beschäftige mich sehr viel mit Minderheitenfragen. Im Moment versuche ich zum Beispiel der mazedonischen Regierung zu helfen, das Problem mit der albanischen Minderheit zu lösen. Kollegen sagen, das bringe nichts, damit gewinne man in Bayern keine Wähler. Aber für mich ist das eine Herzensangelegenheit. Ich habe mich in den 25 Jahren, in denen ich jetzt europapolitisch tätig bin, hauptsächlich mit Fragen von Nationalitätenkonflikten,Vertreibung und europäischen Lösungsansätzen für solche Probleme beschäftigt. Für mich ist das Wichtigste, zu erreichen, dass Minderheiten als Bereicherung empfunden werden und nicht als Bedrohung.

Seit über einem Jahr sind Sie nun Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Welche Schwerpunkte haben Sie sich in dieser Position gesetzt?

Die wichtigste Aufgabe ist, dass innerhalb der Sudetendeutschen Landsmannschaft und der sudetendeutschen Volksgruppe zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Generationenwechsel erfolgt. Das heißt, wir müssen erreichen, dass unsere Organisation und unsere kulturelle Arbeit einfach attraktiv sind für die nächste Generation. Wir haben hier einen regen Zustrom, denn immer mehr Menschen suchen ihre persönlichen Wurzeln. Für viele ist die Landsmannschaft da der Ansprechpartner. Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Zusammenarbeit mit dem tschechischen Volk, um Wunden der Vergangenheit auf beiden Seiten zu heilen und um gemeinsam unser kulturelles Erbe zu pflegen und zu erneuern.

Die Sudetendeutsche Landsmannschaft fordert unablässig die Aufhebung der Beneš-Dekrete. Halten Sie diese Forderung eigentlich für realistisch?

Das ist keine Forderung. Das ist eine Notwendigkeit. Und es liegt auch im Interesse des tschechischen Volkes selbst, die Frage dieser Dekrete endlich zu lösen. Denn diese sind Unrecht und haben eine rassistische Wurzel. Ich glaube auch, dass das tschechische Volk hierbei auf einem guten Weg ist.

Woher kommt Ihr Optimismus?

In den letzten zehn Jahren glich die Diskussion über die Dekrete oft einem alpinen Watschentanz. Das ist so ein Tanz hier in Bayern, bei dem man sich ritualisiert ohrfeigt. Aber ich habe das Gefühl, das unter den tschechischen Verantwortlichen, aber auch in der tschechischen Bevölkerung das Bewusstsein wächst, dass man mit dieser Hypothek irgendwie fertig werden muss. Ich halte das für einen gesunden Prozess, den man von außen her nicht zu sehr reglementieren sollte. Wir sollten uns hier eher ein wenig zurückhalten. Mir persönlich geht es auch gar nicht um eine Entschuldigung der Tschechen. Ich bin ein Gegner der Kollektivschuld, meiner Meinung nach kann sich niemand für etwas entschuldigen, an dem er nicht schuld ist. Aber eine Verurteilung der Vertreibung, eine Verurteilung der Beneš-Dekrete und eine gemeinsame Überlegung, wie man mit dieser Hinterlassenschaft umgehen kann, das würde ich als positiv für beide Seiten bezeichnen.

Schürt die Debatte über die Beneš-Dekrete nicht alte Ängste der Tschechen?

In den Gebieten Tschechiens, in denen Sudetendeutsche in den letzten Jahren aktiv waren, sind die Ängste der Tschechen kleiner geworden. Das Klima ist hier besser als in den Regionen, wo niemals Deutsche gelebt haben.

Die Sudetendeutsche Landsmannschaft fordert, den EU-Beitritt Tschechiens von der Aufhebung der Beneš-Dekrete abhängig zu machen. Macht sie sich so nicht zum nützlichen Idioten der antieuropäischen Kräfte des Nachbarlandes?

Es handelt sich nicht um eine Veto-Drohung, sondern um eine Aufforderung an die Tschechische Republik, sich im Vorfeld des EU-Beitritts von dieser historischen Hypothek zu trennen. Es ist doch auch im Interesse des tschechischen Volkes, auf dem Weg nach Europa eine solche nationalistische Last loszuwerden. Im Übrigen fordert auch das Europaparlament die Aufhebung der Dekrete. Die EU-kritische Politik von Ex-Premierminister Václav Klaus ist eine nationalistische, diese muss von der tschechischen Öffentlichkeit diskutiert werden. Zu dieser Politik sage ich außerdem ganz deutlich: Der Beitritt der Tschechischen Republik zur EU ist eine freie Entscheidung des tschechischen Volkes. Die EU zwingt niemanden zum Beitritt.

Wie können Sie als EP-Abgeordneter den Beitritt Tschechiens zur EU beschleunigen?

In vielen westlichen Staaten herrscht inzwischen ein Egoismus vor, der die Erweiterung in Frage stellt. Natürlich werden diese Positionen öffentlich nicht geäußert, aber intern hört man sie schon. Man sagt den Staaten, wenn Ihr die Bedingungen erfüllt, dann könnt Ihr beitreten, und gleichzeitig denkt man sich hinter den Kulissen ganz neue Hürden aus.

Was für Hürden?

Zum Beispiel der so genannte Post-Nizza-Prozess. Zuerst hieß es, erst müsse der EU-Vertrag von Nizza in Kraft sein, bevor die Osterweiterung erfolgt. Nach dem irischen Referendum und dem Nein der Iren zum Nizza-Vertrag ist der Zeitpunkt seiner Ratifizierung aber unklar. Nach außen hin heißt es nun, das spiele keine Rolle. Hinter den Kulissen höre ich aber bereits, dass wir nicht nur die Ratifizierung abwarten müssten, sondern auch die Vereinbarungen des so genannten Post-Nizza-Prozesses. Die bis 2004 zu führende Debatte über die Verfassung der Europäischen Union also. Gegen solche neuen Hindernisse bin ich vehement, weil das eine Änderung der Geschäftsgrundlage mitten in den Beitrittsverhandlungen darstellen würde.