ZUWANDERUNG: SCHRÖDER ENTZAUBERT SCHILY UND MUSS GRÜNE KÖDERN
: Macht statt Reform

Der Macher Otto Schily steht entzaubert da. Gestern sagte der Innenminister seine seit Tagen angekündigte Pressekonferenz zum Einwanderungsgesetz kurzfristig ab, und Kanzler Schröder erklärte die Angelegenheit zur Chefsache. Der fliegende Wechsel am Steuerrad ist ein deutliches Signal: Schröder traut Schily nicht mehr die notwendige Durchsetzungsfähigkeit beim rebellierenden Koalitionspartner und der störrischen Opposition zu.

Morgen wird Schröder mit den Koalitionsspitzen beraten, wie mit dem Schily-Entwurf weiter zu verfahren ist. Der Kanzler muss sicherstellen, dass der Entwurf zunächst in Kabinett, später dann im Bundestag und Bundesrat eine Mehrheit findet. Keine leichte Aufgabe, seit der Parteirat der Grünen dem Entwurf eine klare Absage erteilt hat und die Union von Tag zu Tag mehr Gefallen an der Verweigerung gewinnt.

Soll das Gesetz, wie beabsichtigt, noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden, muss Schröder zwischen der Union und den Grünen vermitteln. Um die Zustimmung der Union zu gewinnen, muss der Kanzler ihr so weit entgegenkommen, bis diese mit Fug und Recht behaupten kann: In diesem Gesetz ist sehr viel Schwarz und kein erkennbares Grün. Den Koalitionsfrieden wiederum wird Schröder nur dann wieder herstellen können, wenn er Konzessionen an die mannigfaltigen Einwände der Grünen am Gesetzentwurf macht. Gibt es eine Brücke zwischen der Unionsforderung nach mehr Restriktionen gegenüber Flüchtlingen und dem Anliegen der Grünen, just an diesem Punkt mehr Humanität im Gesetz zu verankern?

Die Diskussion um das Nachzugsalter von Kindern könnte zum Schlüssel für einen überparteilichen Kompromiss werden. Zur Erinnerung: Derzeit beträgt die Höchstgrenze 16 Jahre, die Grünen wollen wie die EU 18 Jahre, die CSU 6, die CDU 10 und Schily schlägt 12 Jahre vor. Gelingt es Schröder, der Union die derzeit gültigen 16 Jahre mit Verweis auf die drohende „schlechtere“ EU-Regelung schmackhaft zu machen, könnten die Spitze der Grünen das Festhalten am Status quo als Erfolg verkaufen und an der Basis die Bereitschaft erhöhen, die vielen von Schily vorgeschlagenen Verschlechterungen für Flüchtlinge zu schlucken. Was die Union auf ihrer Habenseite verbuchen könnte.

Es wird niemanden überraschen, sollten sich die Grünen mit ein klein wenig Entgegenkommen bescheiden. Für Realpolitiker zählt der Verbleib an der Macht allemal mehr als eine gute Reform. Ob das auch für die Basis gilt, darauf werden die Landtagswahlen in Hamburg und Berlin schon bald eine Antwort liefern. EBERHARD SEIDEL