TROTZ BIOSIEGEL – DIE RICHTIGE AGRARWENDE MUSS NOCH KOMMEN
: Das Ende der Giftspritze

20 Prozent Ökolandbau und 80 Prozent bisheriger Industriefraß? Soll das eine Vision sein, wofür eine Gesellschaft sich begeistern lässt? Wieso soll sich eigentlich ein Landwirt umstellen, wenn zu 80 Prozent alles so bleibt, wie es ist?

Der Zukunftsforscher Arnim Bechmann hat in seinem Buch „Landbau- Wende“ schon 1987 vorgerechnet, dass und wie eine 100-prozentige Ökolandwirtschaft bis zum Jahr 2030 strukturell und finanziell organisiert werden kann. Er hat übrigens damals vorausgesagt, dass wir 2001 bei 3 Prozent ökologischem Landbau sein werden – was heute exakt zutrifft – und bis 2010 bei 20 Prozent sein könnten – was jetzt Renate Künast will.

Im Unterschied zu Renate Künast heute dachte und rechnete allerdings der Chef des Barsinghausener Zukunftsinstituts schon damals die Agrarwende zu Ende. Seine weiteren Etappen: 50 Prozent Ökolandbau im Jahr 2020 und 100 Prozent Ökolandbau im Jahr 2030.

Am österreichischen, dänischen, italienischen und Schweizer Beispiel lässt sich zeigen, wie ganz andere „Sprünge“ als in Deutschland organisiert werden können: Italien und Dänemark sind heute schon bei 7 Prozent ökologischer Landwirtschaft, die Schweiz bei 9 Prozent und Österreich bei 10 Prozent. Sowohl in der Schweiz wie auch in Österreich gab es Zuwachsraten von bis zu 100 Prozent innerhalb eines Jahres.

EU-Landwirtschaftkommissar Franz Fischler sagte, er halte die 100-prozentige Landbauwende für möglich. Die Westeuropäer müssten lediglich bereit sein, mehr als bisher für Lebensmittel auszugeben. Also: statt bisher 12 Prozent ihres Einkommens künftig 13 bis 14 Prozent.

Die Agrarwende ist also weniger ein Kosten- als ein Mentalitätsproblem. Dies beginnt schon in der Wissenschaft: In Deutschland gibt es etwa 500 Lehrstühle für Land- und Forstwirtschaft – aber nur ein halbes Dutzend für ökologisches Landwirtschaften. Es wird viele Jahre dauern, bis dieser akademische Widerstand überwunden und ökologischer Landbau vorurteilsfrei erforscht und gelehrt wird. Die – im doppelten Sinne – „alten“ Lehrstuhlinhaber bilden zusammen mit der Chemie- und Nahrungsmittelindustrie, den Landwirtschaftskammern und der Landmaschinenindustrie die Hauptgegner einer agrarischen Transformation.

Die Ernährungsindustrie steht jetzt vor der grundsätzlichen Frage, ob sie vollwertige Lebensmittel biologisch ebenso entwerten soll, wie sie dies derzeit mit konventionellen Lebensmitteln zu Gunsten der Konservierung tut – oder ob sie ein Verarbeitungs- und Betriebssystem aufbauen möchte, das ökologischen und gesundheitlichen Kriterien gerecht wird. Ohne Ökologisierung der gesamten Lebensmittelbranche wird es keine Ökologisierung des Lebensmittelmarktes geben.

Als etwa Karl Ludwig Schweisfurth seine Fleisch- und Wurstwarenfabrik („Hertha, wenn es um die Wurst geht“) verkaufte und in den „Hermannsdörfer Landwerkstätten“ konsequent mit Ökolandbau begonnen hatte, fragte er bei verschiedenen landwirtschaftlichen Fakultäten an, wie artgerechte, ökologische Schweinezucht aussehen könnte. Er wollte einerseits den Tieren ihre Würde lassen und andererseits ein gutes Fleischergebnis erzielen. Die Antworten, die er von der herrschenden Agrarwissenschaft erhielt, waren vielsagend: Man habe Rezepte für mehr Rationalisierung und Automatisierung und wisse, wie Arbeitskräfte in der Landwirtschaft eingespart werden könnten, aber die Frage nach artgerechter Tierhaltung habe bisher noch nie jemand gestellt. Das war 1986.

Seitdem hat sich zu wenig geändert. Ohne großflächig wissenschaftliche Begleitung zum Beispiel durch Max-Planck-Institute und zahlreiche neue Lehrstühle für ökologischen Landbau, ohne eine größere Bundesforschungsanstalt für Ökolandbau (vergleichbar der Forschungsanstalt für Landwirtschaft) und entsprechende Landesforschungsanstalten sowie Fachhochschulen für biologische Landwirtschaft fehlt die wissenschaftliche Basis für konsequentes Umsteuern.

Heute noch kehren die Kinder der Landwirte von den Universitäten mit der Giftspritze im Gepäck auf ihre Äcker zurück. Die neuen LehrerInnen für regenerative Landwirtschaft aber können die Töchter und Söhne von Landwirten zu Lebenswirten ausbilden. FRANZ ALT

Der Autor ist Redakteur beim SWR. In den nächsten Tagenerscheint sein Buch „Agrarwende jetzt“ (Goldmann).