Schwer gedacht und leicht gesetzt

Manchmal ist Musik so gut, dass man sie gar nicht spielen kann, und manchmal müssen Etüdenkrämer einfach in die Schranken gewiesen werden: Die Berliner Festwochen und die Akademie der Künste würdigen den Pianisten und Komponisten Artur Schnabel mit einer Ausstellung und einer Konzertreihe

Er hat sich ständig mit musikalischen Problemen auseinander gesetzt

von BJÖRN GOTTSTEIN

Der Name Artur Schnabel wird seit Menschengedenken mit einem mystischen Raunen bedacht. Hier und da ließ ihn jemand fallen, wenn vom magischen Anschlag großer Pianisten oder von kongenialen Beethoven-Interpretationen die Rede war, worauf regelmäßig ehrfurchtsvolles Schweigen folgte.

Meist gab dann jemand kleinlaut zu verstehen, er kenne wen, der habe eine Artur-Schnabel-Platte zu Hause, was wiederum von neidvollem und anerkennendem Nicken quittiert wurde. Artur Schnabel, der am 15. August vor 50 Jahren gestorben ist, wird als Pianist wie ein Mythos verehrt. In den Dreißigerjahren wagte er als erster eine Gesamteinspielung der 32 Beethoven-Sonaten. Als Künstler schob er sich selbstbewusst zwischen Werk und Technik und stellte den musizierenden Nachvollzug der Werkidee über das Meistern technischer Finessen. In seinen Erinnerungen weist der Geiger Carl Flesh vorsichtig auf die technischen Defizite seines Kammermusikpartners hin, die er wesentlich auf Schnabels Widerwillen gegen Etüdenkrämerei und ein unerschütterliches Vertrauen auf seine musikalische Begabung zurückführt.

Hört man sich heute durch Schnabels Aufnahmen, die mittlerweile hinreichend verfügbar und auch zu bezahlen sind, werden tatsächlich gewisse technische Mängel offenbar: Mal wird ein schneller Lauf mit etwas zu viel Pedal verdeckt, mal gerät eine rhythmische Tücke ein wenig unsauber. Aber es wird darüber hinaus der Mythos Schnabel greifbar und benennbar. Das Idiom des österreichischen Pianisten behauptet sich frei von Exzentrik, von denen der Ruf jüngerer Ikonen wie Glenn Gould lebt. Ein leichtes und beständiges Rollen noch in den pointiertesten Figuren verleiht seinem Spiel sanfte Weichheit. Ohne Pathos, mit intuitiver Sachlichkeit, lässt er sich die Musik vom Komponisten in die Finger diktieren.

Wenn die Akademie der Künste und die Berliner Festwochen, die heute beginnen, Artur Schnabel jetzt mit einer Ausstellung und einer Konzertreihe würdigen, wird das Bild des Pianisten Schnabel selbstredend differenziert und hinterfragt. In einem exzellenten Ausstellungskatalog wird Schnabels Bedeutung und Wirkung mit verständig gesammelten Beiträgen und Quellen herausgearbeitet. Die Ausstellung selbst bleibt hingegen leider etwas blass: Hier sind die Exponate unkommentiert und bar jeder Aussage schlicht in Vitrinen aufgetürmt.

Im Zentrum der Retrospektive steht aber weniger der Pianist Schnabel – nein, auch nicht, wie viele denken könnten, „Schnabel: der Mensch“ –, sondern ein Aspekt seines Wirkens, der bislang glänzend vernachlässigt worden ist und der von der Musikwissenschaft in den vergangenen Jahren überhaupt erst zur Kenntnis genommen wurde: Artur Schnabel als Komponist. Da verdreht man die Augen freilich erst einmal gründlich Richtung Großhirnrinde: Ein weiterer großer Interpret als komponierender Kleinmeister hatte gerade noch gefehlt, um die Sammlung der überflüssigsten musikgeschichtlichen Projekte zu vervollständigen. Das Vorurteil erscheint umso gerechtfertigter, als Schnabels Repertoire als Pianist so außerordentlich schmal, ja beinah behäbig gewesen ist. Musik, „die besser ist, als man sie spielen kann“, habe er vortragen wollen, und das waren zunächst Beethoven und Schubert, weniger Mozart, kaum Chopin.

Erfährt man weiterhin, dass der komponierende Pianist „wie Mozart“ zu schreiben meinte, scheint die Akte geschlossen, noch bevor sie geöffnet wurde. Aber Schnabel war mehr als der feiste, lebemännische Österreicher, wie es auf Fotos des Pianisten nicht selten suggeriert wird, dem sein brillantes Klavierspiel einen Platz auf dem Olymp der Musikgeschichte sicherte.

Er hat sich beständig mit den musikalischen Problemen seiner Zeit auseinander gesetzt und sich darüber mit Komponisten wie Arnold Schönberg oder Ernst Krenek ausgetauscht. Als Komponist blieb Schnabel zeitlebens dem atonalen Expressionismus verhaftet. Wenn er anmerkt, er komponiere wie Mozart, dann ist das in erster Linie auf die Leichtigkeit, auf die spontane Unmittelbarkeit zu beziehen, mit der er einen musikalischen Gedanken zu Papier brachte und entfaltete. Aber diese Einfälle selbst waren schwer, dicht und nicht selten in dunkles Timbre getaucht.

In diesem Widerspruch zwischen schwer Gedachtem und leicht Gesetztem lassen sich seine Werke aus Sicht des Interpreten, wie aus der des Hörers, dann auch kaum bewältigen. Hören aber möchte man sie sehr wohl immer wieder aufs Neue. Auch wenn man aus Schnabel als Komponist keine Lichtgestalt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird machen können, ist sein Beitrag zum musikalischen Expressionismus – das zeigen seltene Einspielungen und Aufführungen – nicht zu unterschätzen.

Beseitigen die Festwochen, die mit Abstand bombastischste Konzertreihe der Berliner Festspiele, mit der Schnabel-Werkschau ein echtes Defizit, dann setzt man mit den beiden anderen Exponenten des Festivals auf Bewährtes. Im September ist das gewichtige Oeuvre Arnold Schönbergs zu hören; im Oktober schließlich sind die Wiener Philharmoniker unter Simon Rattle mit einem Beethoven-Zyklus zu Gast.

Heute, Samstag, 8. 9. in der Philharmonie, ab 20 Uhr, Berliner Philharmonisches Orchester, Claudio Abbado: Schönberg; bis zum 14. Oktober Ausstellung „Artur Schnabel. Musiker Musician“ Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Tiergarten. Weitere Programminformation unter www.berlinerfestspiele.de